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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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über ihnen wölbte –, zog sie sich unter ihrem Rock eine Hose ihres Ehemanns an, setzte den Tropenhelm auf und begab sich mit ihrer Staffelei nach draußen in die umgebende Landschaft.
    Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihr Betragen herumsprach.
    »Meine liebe Mrs Fraser«, sagte Mrs Birchwoode, »Sie werden sich noch erschöpfen.«
    »Captain Forbes aus der Garnison hat mir eines seiner Pferde angeboten«, sagte Lilian.
    »Es kann unmöglich sicher sein«, sagte Mrs Ravelston.
    »Ich nehme das Gewehr mit.«
    Doch anstatt Mrs Birchwoode, Mrs Ravelston und Mrs Toomey zu beruhigen, erfüllte diese Kunde sie nur mit noch mehr Sorge. »Unerhört!«, rief Mrs Toomey.
    »Bist du des Wahnsinns?«, zischte Selwyn, als es ihm zu Ohren kam. »Die Leute fragen schon, was für ein Mann ich bin, dass ich meine Ehefrau nach Lust und Laune durch die Gegend ziehen lasse. Du machst einen Narren aus mir. Wir werden alle unsere Freunde verlieren.«
    »Aber wir reisen bald wieder ab«, sagte Lilian. »Das hast du selbst gesagt.«
    »Das ist auch gut so«, sagte Selwyn. »Jeder spricht schon darüber. Selbst Dr. Mossly macht sich Sorgen um dich. Vielleicht hast du den Verstand verloren wie dieser Gilmour. Dieses ganze Herumgewandere in der prallen Sonne. Vielleicht sollte ich mit ihm reden.«
    »Dr. Mossly ist Doktor«, sagte Lilian, »kein Nervenarzt.«
    »Er ist Arzt, das ist alles, was zählt. Außerdem bekommt er hier draußen viele Europäer zu Gesicht, die nicht ganz richtig im Kopf sind, weißt du. Das hat er mir selbst gesagt.«
    Lilian zuckte mit den Schultern. Sie griff nach ihrem Tropenhelm.
    »Wohin gehst du denn jetzt schon wieder?«, rief Selwyn. »Nach allem, was ich eben gesagt habe.«
    »Auf den Basar.«
    »Kannst du stattdessen nicht einen der Träger hinschicken? Warum musst du ständig herumwandern?«
    »Ich brauche etwas frische Luft. Aber ich werde einen Träger mitnehmen, wenn dich das glücklich macht.«
     
    Als Lilian den Schatten des Bungalows verließ, fühlte sie augenblicklich die Last der drückenden Sonne. Selwyn hatte recht: Obwohl es schon spät am Nachmittag war, war es immer noch zu heiß, um sich draußen aufzuhalten. Sogar der Träger hatte sie ungläubig angesehen, als sie ihn herbeigerufen hatte, als fragte er sich, warum seine Herrin nicht einfach drinnen unter dem punkah- Fächer bleiben konnte wie all die anderen europäischen Damen. Doch anstatt umzukehren, machte Lilian lieber noch größere Schritte. Jeder einzelne brachte sie weiter weg von Selwyn und mit jedem einzelnen besserte sich ihre Laune. Sie betrachtete den wallenden Sari einer Frau, die ihr entgegenkam. Wie praktisch ein solches Gewand war. Wie kühl und bequem. Ja, sie, Lilian, mit ihren spindeldürren, in Kreppseide gehüllten Armen und ihrem eng geknöpften Mieder sah wie eine große schwarze Spinne aus.
    Wie gewöhnlich wimmelte es auf dem Basar von Menschen. Der Gestank nach Kot, Schweiß, Rauch und fauligem Gemüse mischte sich schwer mit dem Geruch nach geschmolzener Butter, Kebabs auf dem Grill, Gewürzen und Rosenöl und umhüllte sie zur Begrüßung in einer stillen, unsichtbaren Woge. Anfangs hatte die Gegenwart einer memsahib, einer europäischen Frau, auf dem Basar einige Aufmerksamkeit erregt. Kinder, Bettler, neugierige Gesichter in sämtlichen Formen und Größen, hatten sich um sie geschart, hatten an ihrer Kleidung gezerrt und ihre Haare berührt und hatten ihr in so vielen Sprachen und mit so vielen Stimmen ins Gesicht gebrabbelt, dass sie niemanden verstand. Sie hatte sich mit Bestimmtheit einen Weg durch die Menge gebahnt und allen – auf Englisch, Hindi und Urdu – befohlen, wegzugehen. Die Menge hatte sich schweigend vor ihr geteilt. Nach ein paar Wochen war Lilian ein vertrauter Anblick, und es behelligte sie niemand mehr auch nur im Geringsten.
    Jetzt marschierte sie durch die Menge und hielt nur inne, um ihren Tropenhelm einen Moment abzunehmen und sich eine klebrige Haarsträhne aus der Stirn zu wischen. Sie wollte zur dak- Station gelangen, um zu sehen, ob Briefe aus England gekommen waren. Die Post traf alle zwei Wochen ein, und Lilian war dort und erwartete sie, jedes Mal. Im Laufe der Wochen, die sie mittlerweile in Kushpur verbracht hatten, hatte sie jedoch nichts erhalten. Allmählich fragte sie sich, ob Alice ihr immer noch böse war und sie bestrafte, indem sie sich weigerte, ihr zu schreiben. Doch sie wusste, dass das unwahrscheinlich war. Wahrscheinlicher war, dass ihr Vater die

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