Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
Vom Netzwerk:
sowieso, ein Ort, dem ein Mann seinen Stempel aufdrücken konnte. Lilian hatte genickt. »Natürlich, Selwyn«, hatte sie gesagt, während ihr Gatte erneut an ihrem Nachthemd herumfummelte. Letztlich hatte sich die Reise nach Indien allerdings als preiswerter herausgestellt.
    Aber jetzt, da eine Wolke aus Fliegen seinen Kopf umkreiste und seine Bibel mit Schimmelsporen übersät war, wusste Lilian, dass das Feuer der Verkündigung des Evangeliums, das einst in Selwyn Frasers Brust gelodert hatte, nur mehr flackerte und mit jedem Tag, der verging, schwächer wurde. Sie wusste, dass er den weichen Regen und beißenden Wind zu Hause vermisste, das grüne Gras und die herumtollenden Lämmer, die langen Sonnenuntergänge und kalten Morgen. Sie wusste, dass er Cheddarkäse vermisste und in Hafermehl panierte Heringe. Außerdem wusste Lilian, dass Selwyn Indien als ekelerregende Mischung aus Pestilenz, Heidentum und Langeweile empfand. Sie wusste, wie rasend es ihn machte, dass es unmöglich war, etwas zu erledigen, ohne sich mit einer komplizierten Hierarchie an Kasten vertraut zu machen, und dass ihn die Trägheit und Monotonie des Ortes mit Abscheu erfüllte. Lilian wusste das alles, weil Selwyn selbst es sich nicht nehmen ließ, es ihr beinahe jeden Tag zu erläutern.
    »Wir hätten zu Hause bleiben sollen«, sagte er düster.
    Lilian drehte sich weg und ließ den Blick über die Ebene vor dem dak- Bungalow schweifen. In der Ferne verriet eine tief in der Luft hängende Staubwolke, wo eine Büffelherde umherzog. Die Hitze sorgte bereits dafür, dass sich die Luft am Horizont verzog und Falten warf, und es gab keinerlei Anzeichen, dass im Laufe des Tages noch eine Brise aufkäme. Sie zog ihren Tropenhelm tiefer, um ihr Gesicht vor dem grellen Schein der Morgensonne zu schützen, und hängte sich das Gewehr über die Schulter. »Ich habe bereits alles gepackt«, sagte sie. »Sobald du fertig bist, brechen wir auf.«

2
    Als Selwyn und Lilian eintrafen, hatte die Missionsgesellschaft in Kushpur sie schon geraume Zeit erwartet.
    »Dem Himmel sei Dank, dass Sie hier sind«, sagte der Mann, der sie begrüßte. »Wir haben uns allmählich schon gefragt, ob Ihnen etwas zugestoßen ist.«
    »Sehen Sie sich diese Insektenstiche an«, erwiderte Selwyn. »Oder Wanzenstiche aus einem dieser grässlichen dak- Bungalows.« Er gab dem Mann die Hand und stellte sich und Lilian vor.
    »John Rutherford«, sagte der Mann mit einem Blick auf Selwyns nässende Schorfstellen. Verstohlen wischte er sich die Hand an seiner Hose ab.
    »Und ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, sagte Selwyn. »Hier ist es wie in einem Backofen.«
    »An die Hitze muss man sich erst gewöhnen, ich weiß. Selbst um diese Uhrzeit am Vormittag kann es ziemlich drückend sein.« Mr Rutherford betrachtete kritisch Lilians Tropenhelm, den sie trotz der inständigen Bitten ihres Ehemanns nicht abgesetzt hatte und dessen staubiges und von der Sonne ausgebleichtes Erscheinungsbild auf ausgiebige Nutzung schließen ließ. »Damen finden die Hitze häufig ganz besonders ermattend.« Er räusperte sich. »Doch wie ich sehe, wissen Sie sich Abhilfe zu schaffen, Mrs Fraser.«
    »Ich habe ihr gesagt, sie soll das scheußliche Ding abnehmen«, murmelte Selwyn. »Ja, sie hat sich eben erst wieder ihr Kleid angezogen. Seit wir Hugli verlassen haben, hat sie eine meiner Hosen getragen.«
    »Mein Ehemann ist recht krank«, unterbrach Lilian ihn, als sie Mr Rutherfords Miene bemerkte. »Mehr als einmal waren wir gezwungen, die dak- Sänfte weiterzuschicken und auf die nächste zu warten. Deshalb treffen wir erst so spät ein.«
    »Benötigen Sie einen Arzt?« Mr Rutherford blickte zu Selwyn, dann zu Lilian, als sei er sich nicht sicher, wer von beiden am dringendsten behandelt gehörte. »Das Hospital ist gleich dort drüben. Ich bin mir sicher, dass Dr. Mossly Ihnen liebend gern helfen würde.«
    Er deutete auf ein Gebäude, vor dessen Eingang sich eine Menschenmenge gebildet hatte. Sie beobachteten, wie ein Lumpenbündel vom Boden hochgehoben und hineingetragen wurde. An den Mauern des Gebäudes lagen weitere Haufen zerfetzter Decken, und über jedem einzelnen schwirrte eine wütende Fliegenwolke. Aus den Decken ragten hier und dort knochige Gliedmaßen hervor.
    Selwyn betrachtete unschlüssig den dunklen Eingang, in den das Bündel verschwunden war. »Wenn ich dort hineingehe, komme ich vielleicht nie wieder heraus«, sagte er. Er schlug verärgert mit dem Fliegenwedel, den er wie

Weitere Kostenlose Bücher