Handbuch für anständige Mädchen
Sofort rankten sich wilde Spekulationen um den Mann, den Mr Vine abwechselnd als »einen veritablen Wilden«, »gekleidet wie ein Bandit« und »mit Zähnen so rot wie die des Teufels« beschrieben hatte. Es folgte immer saftigerer Klatsch: So stellte sich heraus, dass Mrs Fraser den Wilden am nächsten Tag zum Tee zu sich eingeladen hatte.
»Zweifellos wird der Mann nicht fähig sein, eine Tasse Tee auf der Untertasse zu balancieren, ohne ihn zu verschütten«, raunte Mr Vine mit gedämpfter Stimme Mrs Birchwoode zu.
»Vielleicht will er gar keinen Tee«, bemerkte Mr Birchwoode. »Er nimmt seine Erfrischung vielleicht einfach zu sich, indem er einen kräftigen Schluck aus einer Ziegeniederflasche trinkt.« Er hatte gelacht, als die Damen, Mrs Birchwoode, Mrs Ravelston und Mrs Toomey, angewidert die Nase rümpften und ihre eigenen Tassen grazil an die Lippen hoben, als wollten sie einander zeigen, wie man es richtig machte.
Um vier Uhr am folgenden Nachmittag wimmelte es im Salon der Frasers von Besuchern. Mrs Toomey, Mrs Birchwoode und Mrs Ravelston hatten sich in den Bungalow der Frasers eingeladen, gemeinsam mit ihren Gatten wie auch Mrs Birchwoodes jüngster Tochter, der sechzehnjährigen Frances, Mr Vine, Dr. Mossly und Captain Wheeler und Captain Forbes aus der Garnison. Mr Rutherford, der gekommen war, um in einer ganz anderen Angelegenheit mit Selwyn zu sprechen, war ebenfalls anwesend und letztlich weder in der Lage noch gewillt (auch wenn er es sich nicht gern eingestand), sich von der versammelten Gesellschaft loszumachen. Als endlich jeder eine Sitzmöglichkeit gefunden hatte oder aber eine geeignete Stelle, an der es sich stehen ließ, ohne dass man allzu erwartungsvoll wirkte, war kaum mehr Platz für den Gast.
Der jähe Besucherstrom amüsierte Lilian mehr, als dass er sie ärgerte. Es war spürbar, wie die Aufregung der Damen gemeinsam mit der Hitze in dem überfüllten Zimmer anstieg, während sie herumsaßen und auf das Eintreffen von Lilians heidnischem, halunkenhaftem Besucher warteten. Unter der Decke strich ruhig der gigantische Flügel des punkahs hin und her und rührte wirkungslos Wirbel in die glühend heiße Luft. Die Unterhaltung kreiste wieder und wieder um die üblichen Themen – den wahrscheinlichen Gewinner des diesjährigen Bengal Cups, die Veränderungen, die die Eisenbahn mit sich brächte, sollte sie je so weit landeinwärts kommen, ob der dahinschwindende Eisvorrat noch viel länger reichen würde … Niemand erwähnte den wahren Grund seines Kommens. Doch als die Uhr auf dem Kaminsims die volle Stunde schlug, verstummte das Gespräch, und sämtliche Augen richteten sich auf die Tür. Käme er? Würden sie es hören, wenn er mit seinen Ziegeniederstiefeln über die Veranda trampelte?
Einen Augenblick später entfuhr Mrs Ravelston ein nervöses Kichern. »Es ist wie dieses Theaterstück, das wir in der letzten Saison gesehen haben. Erinnerst du dich, Libby? Im Theater in Kalkutta. ›Doch höre ich da nicht ein Klopfen oder eine Stimme von draußen?‹, und alle haben zur Tür gesehen.«
Um ihr Lächeln zu verbergen, bedeutete Lilian einem Träger mit einem Wink, weitere Erfrischungen zu servieren. Doch Mrs Birchwoode hatte Lilians Belustigung bemerkt und hatte offensichtlich genug. Seufzend stellte sie ihre Teetasse ab und raffte ihre Röcke, um zu gehen. Da die anderen Damen daran gewöhnt waren, all ihr Handeln von Mrs Birchwoodes Billigung abhängig zu machen, folgten sie nach und nach ihrem Beispiel.
Und dann, in dem folgenden Durcheinander, als ayahs, Kindermädchen, und Träger gesucht wurden, als Ehemänner einander die Hände schüttelten und Teetassen klappernd auf Tabletts gestellt wurden, erschien ein Mann in der Tür. Niemand hörte, wie der Träger ihn ankündigte, und niemand bemerkte seine Anwesenheit, bis Mrs Birchwoodes Tochter Frances auf ihn deutete und einen Schrei ausstieß. »Ist er das? Aber er sieht überhaupt nicht wie ein Halunke aus. Er sieht wie einer von uns aus.«
»Fanny, bitte«, brummte ihr Vater.
»Gestatten Sie mir, Ihnen Mr Hunter vorzustellen«, sagte Lilian. »Mr Hunter und ich sind uns gestern Nachmittag auf dem Basar begegnet. Er ist ein Pflanzenfachmann und reist viel durch ganz Indien, um botanische Exemplare zu sammeln. Treten Sie doch ein, Mr Hunter. Bitte setzen Sie sich – wenn Sie einen Platz finden können.«
»Sind Sie alle meinetwegen hier?«, fragte Mr Hunter, der sich mit einem Lächeln in dem Zimmer umsah. »Wie
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