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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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schwergefallen, sich an das gemäßigtere Klima und die weniger räuberischen Insekten zu gewöhnen. Lilian und Alice hatten sich beim Nachfüllen der Untertassen abgewechselt.
    Selwyn waren die Untertassen ebenfalls aufgefallen. Lilian sah, wie er die Augen schloss und erschauerte.
    »Sind Briefe für uns eingetroffen?«, fragte sie, da ihre Gedanken immer noch der Heimat galten. In dem Moment bemerkte Lilian eine Schüssel mit großen safrangelben Pfirsichen auf dem Tisch neben der hookah. Sie stieß einen Freudenschrei aus und griff nach einem. Er fühlte sich so warm wie Fleisch an, und sie hielt ihn sich an die Nase, um den vertrauten süßen Duft einzuatmen. Die flaumige Haut war weich wie Staub an ihren Lippen, und sie atmete den Geruch erneut ein. Sie schloss die Augen und vergaß kurzzeitig Selwyn und seine finstere Miene, sie vergaß Mr Rutherford und diesen eigenartigen Salon in Kushpur. Stattdessen war sie zu Hause: wieder zu Hause bei Alice in der herrlichen Sommerhitze des Treibhauses neben dem Pfirsichbaum ihrer Mutter, dessen Äste sich unter dem Gewicht der unzähligen, leuchtenden Früchte bogen.
    Wie sie wusste, war in England bald die Zeit gekommen, den Baum in die kühlere Luft des Wintergartens zu schieben. Selbst zu zweit war es fast unmöglich gewesen, den Pfirsichbaum zu verrücken, da seine gewaltigen Kupferräder an Wurzeln hängen blieben und seine Äste sich verfingen und verbogen, wenn sie ihn gewaltsam durch die Tür des Treibhauses schoben. Wie, um Himmels willen, würde Alice es jetzt schaffen, da sie nun allein war? Lilian ertrug den Gedanken nicht.
    Als sie die Augen aufschlug, sahen Selwyn und Mr Rutherford sie mit verblüfften Mienen an. Sie blinzelte die Tränen zurück und legte den Pfirsich wieder in die Schüssel. »Nun?«, sagte sie, schneidender als beabsichtigt. »Mr Rutherford?«
    »Ich fürchte nicht«, sagte Mr Rutherford. »Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, wenn Dinge erst Monate später hier eintreffen. Und manchmal kommen Briefe gar nicht an. Sie fallen in den Fluss, werden davon geschwemmt oder gestohlen oder gehen einfach verloren.« Er zuckte mit den Schultern. »Und dann trifft manchmal die Post von Monaten auf einmal ein. Ich hoffe, Sie haben nichts Wichtiges erwartet?«
    »O nein«, sagte Lilian. »Eigentlich nicht.« Sie war enttäuscht, keine Nachricht von Alice erhalten zu haben. Sie fragte sich, wie weit es ihre eigenen Briefe auf ihrer Reise zurück nach England gebracht hatten. Vielleicht kamen sie an Alices Briefen auf deren Weg nach Indien vorbei … Andererseits trieben die Briefe der beiden Schwestern vielleicht gerade den Ganges hinab oder wehten verloren über die weiten und staubigen Ebenen Bengalens.
    »Sonst noch etwas?«, wiederholte Mr Rutherford und zog sich in Richtung Eingang zurück. »Nein? Tja, dann gehe ich jetzt, damit Sie sich einleben können. Ich habe mir die Freiheit genommen, einen khansamah für Sie anzustellen. Er wird in Bälde eintreffen, um mit Ihnen über Ihre Essenswünsche und jegliche anderen Haushaltsangelegenheiten zu reden, die Sie eventuell besprechen möchten.« Seine Stimme erscholl von der Veranda herein. »Zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden, falls Sie weitere Hilfe benötigen sollten.«
     
    Es dauerte nicht lange, bis Selwyn und Lilian die Bekanntschaft anderer Europäer in dem Viertel machten, darunter Mr Vine, dem Friedensrichter, Mr Ravelston, ein Kontorist der Company zur Vertretung des abwesenden Mr Gilmour, Mr Toomey, ein Bauingenieur, der auf Brücken spezialisiert war, Mr Birchwoode, der Companybeamte, der für die Eisherstellung verantwortlich zeichnete, Dr. Mossly von der medizinischen Missionsstation sowie verschiedene Offiziere aus der Garnison. Einige Männer waren in Begleitung ihrer gelangweilten, aber schwatzhaften Gattinnen, und Lilian tat, was ihre Rolle als Selwyns Ehefrau verlangte, und saß stundenlang mit Mrs Ravelston, Mrs Toomey und Mrs Birchwoode im Haus, trank Tee und ließ sich erzählen, welche Dienstboten gut waren und welche schlecht, was modisch war und was nicht, welche Gefahren das Klima für den Teint, für die Verdauung und für den Erhalt von Seidenstoffen und Reifröcken darstellte. Doch wann immer sich ihr die Gelegenheit bot – wenn sie frühmorgens erwachte, bevor die Sonne den Himmel auch nur gestreift hatte, wenn Selwyn sich zu einem Nickerchen zurückzog und die europäischen Bungalows in erschöpfter Stille unter dem Nachmittag dalagen, der sich glühend

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