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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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einen Talisman bei sich trug, nach einem Moskito. Lilian zuckte zusammen. Konnte er nicht stillhalten, noch nicht einmal einen Augenblick?
    »Wie dem auch sei, Rutherford«, sagte er, »wären Sie so freundlich, uns zu zeigen, wo wir während unseres Aufenthalts untergebracht sind? Wir sind heute Morgen um vier Uhr aufgebrochen, um die Hitze zu vermeiden, und ich fühle mich allmählich recht schwach.«
    Mr Rutherford führte sie durch die ummauerte europäische Kolonie zu einem gewaltigen, weiß gestrichenen Bungalow mit einer Veranda, die mit verschlungenen schmiedeeisernen Verzierungen versehen war. Früher einmal war der Bungalow von einem Garten umgeben gewesen, der jetzt allerdings mehr nach einem Dschungel aussah. Ein wild wucherndes Meer aus Grünpflanzen um einen breiten Rasenstreifen, hier und da von karmesinroten Geranien durchbrochen. Lilians Blick wurde wie magisch von diesen auffälligen Blüten angezogen, die den grellen Sonnenschein in sich aufzunehmen und immer heftiger zu leuchten schienen, bis sie sie kaum noch ansehen konnte. Selbst als sie sich wegdrehte, loderte ihr Abdruck immer noch wie rot glühende Kohlestücke auf ihrer Netzhaut. Das Haus selbst ruhte auf kurzen Stelzen, als stehe es auf Zehenspitzen, um seine Röcke vor Staub zu schützen.
    »Ein Kontorist der Company hat hier gewohnt«, sagte Mr Rutherford. »Aber er ist erkrankt und hat sich um der kühlen Luft willen in die Berge zurückgezogen. Er wird geraume Zeit weg sein, Sie können also unbefristet in diesem Haus wohnen. Na ja, zumindest bis Sie weiterziehen.«
    Er stieß die Tür auf und führte sie in den Salon. Drinnen war es grün und schattig mit kühlen Holzböden und duftenden Grasgittern an den Fenstern. An der Decke setzte langsam der punkah- Fächer ein, dessen Seil von einem einheimischen Dienstboten gezogen wurde, der draußen auf der Veranda saß. Man hatte sich jede erdenkliche Mühe gegeben, die heimatlichen Salons nachzubilden, und in dem Raum stand ein Durcheinander aus Abstelltischchen, Ornamenten und Topfpalmen herum. Ein gewaltiges Bärenfell lag vor dem Kamin ausgestreckt da, der ausgestopfte Kopf starrte in düsterem Unglauben von einer angrenzenden Wand herab. In einer Ecke erblickten sie zu ihrer Überraschung eine große schmerbäuchige hookah- Wasserpfeife auf einem Tisch mit kurzen Beinen, der eigens zu diesem Zweck gemacht zu sein schien.
    »Hat dieser Kerl das Ding da tatsächlich geraucht?«, fragte Selwyn und wies auf die hookah.
    »Manchmal schon, glaube ich«, sagte Mr Rutherford.
    »Das wird ja immer schöner! Allerdings sind wir hier weit weg von der Heimat. Da vergisst man rasch einmal, wie man sich zu benehmen hat.«
    Mr Rutherford lächelte gezwungen. »In der Tat. Wie schon gesagt, Mr Gilmour, der Kontorist, musste sich in eine kühlere Gegend begeben. Aus gesundheitlichen Gründen, wenn Sie verstehen.«
    »Ach«, sagte Selwyn. Er tippte sich mit dem Zeigefinger seitlich an den Kopf und nickte. »Ich verstehe.«
    »Wirklich, Selwyn«, sagte Lilian. »Du weißt doch nichts über den armen Mr Gilmour. Ich bin mir sicher, Mr Rutherford wollte nichts in der Richtung andeuten.«
    »O doch!«, fuhr Selwyn sie an. »Die Hitze treibt manche dieser Leute in den Wahnsinn, weißt du. Natürlich wird alles vertuscht. Man schickt sie fort. Hoch nach Simla oder dergleichen. Ich habe doch recht, nicht wahr, Rutherford?«
    Mr Rutherford inspizierte seine staubigen Schuhspitzen. »Dazu möchte ich mich wirklich nicht äußern«, murmelte er.
    Draußen läutete eine Glocke. »Neun Uhr!«, rief Mr Rutherford, offensichtlich erleichtert. Er rieb die Hände aneinander, als wärme er sich vor einem knisternden Feuer. »Gibt es sonst noch etwas, wobei ich Ihnen behilflich sein kann?«
    »Danke, aber ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen«, sagte Lilian. Als sie sich in dem Zimmer umsah, fiel ihr auf, dass die Beine sämtlicher Möbelstücke in Untertassen mit Wasser standen. Zu Hause bei ihrem Vater bestand Tante Lambert darauf, dass die Beine all ihrer Möbelstücke ebenfalls so behandelt wurden. Sie beteuerte, dies sei die einzige Möglichkeit, um weiße Ameisen daran zu hindern, das Holz zu zerfressen oder in Scharen die Stuhlbeine zu ihr hinaufzukrabbeln, während sie vor dem Feuer döste. Tante Lambert hatte mehr als die Hälfte eines Jahrhunderts mit ihrem Gatten dem Friedensrichter in den Ebenen Indiens verbracht. Bei ihrer Rückkehr nach England im Alter von zweiundsiebzig Jahren war es ihr

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