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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Finger im Spiel hatte. Trotzdem hatten sie und Alice immer die Oberhand über ihn gewon nen, als sie noch zusammen waren. Gewiss war Alices Lage nicht so schwierig, dass sie nicht sämtliche einfallslosen Anstrengungen überwinden könnte, die er unternehmen mochte, um ihre Kommunikation zu unterbinden? Nervös schlang sie die Finger ineinander.
    Ein Huhn, das jemand hoch oben in einem Korb auf den Schultern trug, kreischte ihr ins Gesicht und verlor eine Federwolke. Lilian zuckte zusammen. Gedankenversunken wie sie war, hatte sie vergessen abzubiegen und befand sich nun mitten auf dem Basar. Der Träger wusste doch, dass sie auf dem Weg zum dak gewesen war, dachte sie verärgert, warum hatte er sie nicht zurückgerufen? Sie drehte sich um, um ihn zusammenzustauchen, doch er war spurlos verschwunden. Wo steckte der Mann nur? Lilian stellte sich auf die Zehenspitzen und suchte die Menge nach ihm ab.
    »Miss Talbot? Das können Sie doch unmöglich sein?«, erklang auf einmal eine Stimme dicht an ihrem Ohr.
    Sie fuhr zusammen und sah sich um. Die Stimme hatte Englisch gesprochen, aber sie konnte keinen Europäer entdecken. Der einzige Mensch, der sie ansah, war ein großer bärtiger Inder. Er grinste anzüglich, sodass seine vom Betel zinnoberrot verfärbten Zähne und Zunge zu sehen waren, und begann, eifrig in der Tasche seiner Pyjamahose herumzukramen.
    Lilian runzelte die Stirn in der Hoffnung, ihr bestes wütendes memsahib- Starren könne ihn dazu bringen, wegzugehen. »Nein, danke«, sagte sie bestimmt, da sie annahm, er werde gleich aus einem geheimen Winkel seiner Kleidung seine zu verkaufenden Waren hervorzaubern. »Bitte lassen Sie mich in Ruhe.« Und damit drehte sie sich weg.
    »Meine liebe Lilian …«, sagte die Stimme.
    Lilian blinzelte. »Wie bitte?«
    »Miss Talbot. Lilian, wenn Sie mir gestatten …«
    Lilian starrte ihn an. »Mrs Fraser«, verbesserte sie ihn. »Und nein, ich gestatte nicht!«
    »Natürlich.« Der Mann betrachtete die Finger ihrer linken Hand, die in keinem Handschuh steckten.
    »Es tut mir leid, Sir, aber ich habe keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte Lilian.
    »Sie erinnern sich nicht an mich? Haben Sie mich vergessen?«
    Lilian wich einen Schritt zurück. Passanten waren stehen geblieben und starrten den badmash an, der es gewagt hatte, eine europäische memsahib aufzuhalten. Wie sie feststellte, war sie mittlerweile von einem Kreis neugieriger Gesichter umgeben. »Wie konnte ich was vergessen?«, fragte sie zornig. »Es gibt nichts, woran ich mich zu erinnern hätte.«
    Bevor der Mann erneut etwas sagen konnte, erhob sich eine Stimme eindringlich aus der Menge: »Mrs Fraser? Mrs Fraser!« Und zu Lilians noch größerer Überraschung tauchte Friedensrichter Vine vor ihr auf. »Lassen Sie diese Dame in Ruhe, Sir!«, rief er. »Benötigen Sie Hilfe?« Sein Tonfall Lilian gegenüber war besorgt. »Kennen Sie diesen Kerl?«
    »Nein«, sagte Lilian.
    »Ja«, sagte der Inder.
    Lilian starrte dem Mann forschend ins Gesicht. Sein Teint hatte dank der Sonne einen satten nussbraunen Farbton, die untere Hälfte zierte ein langer schwarzer Bart, aus dessen Mitte ein vom Betel verfärbtes Lippenpaar teuflisch hervorleuchtete.
    »Ich bestehe darauf, dass dem nicht so ist«, wiederholte sie. Doch die Stimme kam ihr bekannt vor … sie sah erneut hin. Es war doch gewiss nicht … ihr Magen verkrampfte sich.
    »Meine liebe Mrs Fraser«, flüsterte Mr Vine, der Lilian am Ärmel zerrte. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, diesen Teil des Basars zu betreten?«
    »Erinnern Sie sich an die Orchideen?«, meinte der Inder beharrlich. »Orchideen in Lachsrosa.«
    Lilian wich das Blut aus dem Gesicht. Ihr wurde schwindlig, und sie geriet ins Schwanken wie ein Schilfrohr in der Strömung. Aus großer Ferne drang eine Stimme zu ihr. »Mrs Fraser«, sagte sie. »Mrs Fraser, nehmen Sie bitte meinen Arm.« Doch Lilian achtete nicht darauf. Stattdessen holte sie mit der rechten Hand aus und hieb mit der Faust so fest wie möglich in jene lächelnden roten Zähne. Der Inder taumelte zurück, die Hand vor dem Mund. Mit einem Bein versank er bis zum Knie in einer gewaltigen Schüssel mit Bohnen, die neben einer Marktbude stand. Ein dünnes, kirschfarbenes Rinnsal kam zwischen seinen Fingern hervor, auch wenn sich nicht sagen ließ, ob es sich um Blut handelte oder lediglich durch Betel verfärbten Speichel.

3
    Dank Mr Vine verbreitete sich die Nachricht von dem Zwischenfall auf dem Basar wie ein Lauffeuer.

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