Handbuch für anständige Mädchen
getrunken und saß, so wie jetzt, auf einem niedrigen kleinen Sofa zwischen zwei Damen mittleren Alters. Wie sie insgeheim feststellte, hatte die Zeit kaum etwas an seinem Erscheinungsbild geändert. Seine Koteletten waren genauso seidig-glänzend, seine Augen funkelten immer noch unter schwarzen Brauen hervor, und sein Lächeln blitzte (da es nun von dem zinnoberroten Betelsaft gereinigt war) immer noch weiß in seinem sonnengebräunten Gesicht.
Mr Hunter war Lilians Vater bei einem Treffen der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens begegnet. Er hatte einen Vortrag über seine Expedition nach Südamerika gehalten. Mr Talbot, der sich zu dem Zeitpunkt mit Inkas, Azteken und Mayas beschäftigte, hatte, auf Lilians eigene Empfehlung hin, beschlossen, seiner Sammlung südamerikanischer Artefakte botanische Muster hinzuzufügen. Mr Hunter war eingeladen worden, so lange im Großen Haus zu bleiben, wie er es für nötig erachtete – vielleicht bis er sein Buch über »Die Flora der Anden« geschrieben hatte oder bis seine Pflanzenexemplare im Wintergarten angegangen waren. Auf jeden Fall aber, bis Mr Talbots Interesse an ihm nachließ.
Wie Lilian und Alice erwarteten, hatte ihr Vater seine Sammlerinteressen nach nur ein oder zwei Besuchen in der drückenden Treibhausatmosphäre auf andere Dinge gerichtet. Mr Hunter blieb sich selbst überlassen. Es war eine Situation, die allen gelegen kam: Mr Talbot erhielt ein paar der seltensten Orchideen, die in ganz England gezüchtet wurden; die Tanten stellten zu ihrem Entzücken fest, dass die Heizung im Wintergarten aufgedreht wurde; Lilian und Alice lernten viel über Hortikultur und Botanik, was sie zuvor lediglich erraten hatten. Und Mr Hunter hatte zwei junge Gehilfinnen, die ihm bei seiner Arbeit zur Hand gingen. Wie im Fluge wurden aus Wochen Monate. Mr Hunter, Lilian und Alice verbrachten jeden Tag zusammen.
»Und haben Sie gewusst, dass sich das Wort ›Orchidee‹ von dem griechischen Wort orkhis herleitet, das Testikel bedeutet?« Lilian entsann sich, wie Mr Hunter ihnen eines Tages diese Frage gestellt hatte, während er behutsam zwei Knollen auseinander schob.
Alice sagte ja, selbstverständlich, ihr Vater erwarte von ihnen, dass sie über derartige etymologische Einzelheiten Bescheid wüssten. Lilian hatte den Blick auf die Orchideenknolle gesenkt, die sie in ihren Händen hielt.
»So viele Blumen und Pflanzen sind nach der menschlichen Anatomie benannt«, fuhr Mr Hunter einen Augenblick später fort. »Amorphophallus beispielsweise. Clitoria. Chenopodium vulvaria und natürlich Hymenaea.«
Alice hatte ihn angestarrt, als überrasche es sie, dass sich ihr Botaniklehrer auf einmal in einen lüsternen Taxonomen verwandelt hatte.
Lilian hatte genickt. »Dem ist wohl so«, murmelte sie.
»Wie dem auch sei«, fuhr Mr Hunter fort. »Ich möchte bezweifeln, ob gar so viele Orchideen die Salons und Wintergärten Englands zieren würden, wenn ihre Besitzerinnen wüssten, dass ihr Name so … anschaulich ist.« Und er hatte Lilians Hände in die seinen genommen und die Knollen zusammen mit ihr geteilt, während die feuchte Erde über ihre ineinanderverschlungenen Finger glitt.
Einen Monat später war Mr Hunter fort gewesen.
Dr. Mossly stürzte sich auf Lilian, die traumverloren neben dem Teetablett stand. Es fiel ihr schwer, ihm ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Anscheinend wollte der Arzt wissen, ob es möglich sei, dass sie im Hospital Bibellesungen veranstalte. »Um die Moral zu heben.«
»Aber sind die meisten Ihrer Patienten nicht Einheimische?«, fragte Lilian geistesabwesend. »Zögen sie es nicht vor, etwas aus ihren eigenen religiösen Schriften vorgelesen zu bekommen?«
Dr. Mosslys Gesicht verfärbte sich rot. »Mrs Fraser«, flüsterte er, »was reden Sie da?«
»Oh, ich meinte bloß … ich meinte bloß, dass es mir ein Vergnügen wäre.«
»Hervorragend. Ich habe auch ein paar Eurasier dort. Und natürlich ein paar eingeborene Christen. Die werden ganz besonders begeistert sein.« Dr. Mossly rieb sich die Hände und setzte an, die Bedeutung der Moral für eine schnelle Genesung zu erläutern. Danach ging er dazu über, Lilian zu erklären, weshalb die eingeborenen Hindus besonders anfällig für Fiebererkrankungen und Depressionen waren (schuld daran war ihre allgemeine Trägheit und Mattigkeit), weshalb so viele von ihnen an Linsentrübung litten (verantwortlich war ein Mangel an Rinderfett in der Ernährung) …
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