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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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gesenkt, erleichtert über ihre Entscheidung, die Tracht einheimischer Männer, bestehend aus Turban, Pyjamahosen und khurta, zu tragen, die sie sich auf dem Basar in Rajmahal gekauft hatte.
    Männerlachen hallte durch die wabernde Dunkelheit. Sie hörte eine Bewegung, ein leises Rascheln in dem Durchgang hinter ihr, doch es war nur einer der erbärmlichen Pariahunde, der in einem Abfallhaufen wühlte. Er schob sich auf sie zu, die Lefzen über abgebrochene, spitze Zähne gefletscht, mit gierig funkelnden Augen. Lilian erschauderte und versetzte ihm einen Tritt gegen sein skrofulöses Bein.
    Ein paar Minuten später kam ein Mann auf sie zu. Er trug nicht die kratzige, eng anliegende Kleidung eines Europäers, doch Lilian wusste sofort, dass es sich um Mr Hunter handelte. Nur ein Europäer würde derart selbstbewusst durch die dunklen Gänge eines mitternächtlichen Basars marschieren. Mr Hunter war, wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Basar, in Pyjamahosen und eine Tunika gekleidet. In seinem Gürtel steckte ein langes, gekrümmtes Messer. Er schien sich zu freuen, als er sie sah, und musterte ihre jungenhafte Aufmachung voller Begeisterung. »Ich wusste, dass Sie kommen würden«, sagte er.
    »Möchten Sie wissen, was mir widerfahren ist, nachdem Sie das Haus meines Vaters verließen?«, sagte Lilian. Sie beobachtete, wie Mr Hunters Lächeln erlosch.
     
    Lilian hatte reichlich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was sie vielleicht täte, sollte sie jemals dem Vater ihres toten Kindes wieder begegnen.
    Sie hatte neun Monate gehabt, um an ihn zu denken, während ihr Körper unter ihren Kleidern anschwoll und ihr Vater schrie und fluchte und durch das Treibhaus auf und ab stürmte, als kauere dort vielleicht immer noch Mr Hunter irgendwo in einem Versteck zwischen dem Blätterwerk und ließe sich wie ein Hase aus dem Dickicht hervorjagen. Als Lilian mit ihrem neuen Ehemann nach Indien gesegelt war, hatte sie noch mehr Gelegenheit gehabt, über ihre Erfahrungen nachzudenken. Zeit und Entfernung hatten eine gewisse Leidenschaftslosigkeit mit sich gebracht. Lilian hatte Mr Hunter falsch eingeschätzt, so viel stand fest. Ihm war es recht gewesen, mit ihr zu machen, was er wollte. Er hatte nicht beabsichtigt, sich eine Ehefrau aufzubürden, noch nicht einmal eine, die so schön und berauschend wie Lilian war. Und als das Baby gestorben war, hatte sie – was empfunden? Trauer? Natürlich. Wut? Ohne Zweifel. Erleichterung? Sie konnte es nicht leugnen. Allerdings war der Tod Lilian nicht fremd. Nicht genug damit, dass ihr Bruder, ihre Mutter und ihre Schwester bereits »ihre sterblichen Hüllen hinter sich gelassen hatten« (wie ihr Vater es gern ausdrückte), sondern auch die Tanten (von denen es einst sehr viel mehr gegeben hatte) schieden in regelmäßigen Abständen dahin, als wollten sie den Hinterbliebenen ins Gedächtnis rufen, wie naturgemäß zerbrechlich der Mensch war und dass, zumindest für den Talbot-Haushalt, die Himmelspforte viel eher Zutritt gewährte als das schmiedeeiserne Tor, das ihr Vater am Ende des Parks hatte zuschweißen lassen.
     
    »Meines Wissens gibt es ein einheimisches Gebräu namens bhang «, sagte Lilian. »Es soll wohl äußerst anregend sein. Kennen Sie einen Ort, an dem wir es bekommen können?«
    Mr Hunter nickte. Er führte Lilian eine Gasse entlang und durch einen niedrigen, schwach erleuchteten Eingang.
    Der Raum dahinter ließ ihr den Atem stocken. Er war voller Rauch und lautem Gelächter, Geschrei und Musik. Ihr Blick fiel auf dunkelgesichtige Männer, die auf niedrigen Sofas lagen, hookahs neben und kleine Gläser voll dunkler Flüssigkeit vor sich. Manche trugen Augenklappen oder hatten zerfetzte Ohren oder Narben im Gesicht. Ihre vom Betel verfärbten Lippen leuchteten wie glühende Kohlestücke in ihren Bärten, während sie sich unterhielten und lachten und die nautch- Tänzerinnen begafften, die zum Klang einer kreischenden Flöte und eines Sitar tanzten. Weitere Mädchen wanderten wie Kellner zwischen Tischen umher oder drängten sich um gleichgültige Kartenspieler. Diejenigen, die nicht derart beschäftigt waren, lagen mit gelangweilten Mienen auf Kissen an den Wänden, als warteten sie auf einen Zug. Die Atmosphäre war ranzig von Tabak, Schweiß, ghee und einem süßlich modrigen Geruch, den Lilian nicht einordnen konnte.
    Mr Hunter lenkte sie am Rand der Menge vorbei. »Halten Sie den Kopf gesenkt«, sagte er. »Und sehen Sie niemandem in die Augen.« Er entdeckte

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