Handbuch für anständige Mädchen
kurzen Brief, der ihr beilag. Ihr Vater hatte die Adresse weggerissen, doch das Wort »ushpur« war gerade noch sichtbar.
»Wo liegt ›ushpur‹?«, fragte Mrs Talbot die Ältere. »Ich dachte, sie ist nach Kalkutta gereist?«
»Es muss sich wohl um Kushpur handeln«, erwiderte Tante Lambert. »Das liegt im Landesinneren. In der Nähe von Oudh. Einer der Vorposten der Company, wie ich mich zu erinnern meine. Dort gibt es eine Garnison, glaube ich, aber der Ort liegt meilenweit von allem entfernt. Es wird dort nur wenige Europäer geben, obgleich sich die Dinge seit meiner Zeit in Indien geändert haben mögen. Aber vielleicht wird sich alles aufklären, sobald Alice den Brief liest.«
»Ich bezweifle es«, sagte Alice grimmig. »Er ist kaum zwei Seiten lang.« Sie hielt das Papier hoch ins Lampenlicht.
Meine liebe Alice [las sie],
wie geht es dir, ich höre gar nichts! Weißt du, Alice, mich hat die Fahrt nach Indien etwas mitgenommen – dir sag ich’s offen! Und ja, ich sehne mich nach England, alles ist dort immer bestens, Schwesterherz, und das Leben in der Verbannung keine Erholung, sondern eher Qual, wenn auch keine große.
Gestern eine echte Überraschung – aus heiterem Himmel das ehrlich gesagt ziemlich unerwartete, wenn auch reizende Erscheinen eines Tigerfellverkäufers, extra von Kalkutta angereist, ein Mr Havelston oder so (Name beginnt mit H). Der alte Knabe schwört auf die absolut ewige Haltbarkeit seiner Felle. Wie ich Tigerfellkissen liebe! Sie sehen so drollig aus im Salon oder im Schlafzimmer. Aber denk nur, mein über alles geliebter Gatte bevorzugt seine Kissen weiß. Doch das macht nichts, denn natürlich weiß ich Rat. Gegen Selwyns Willen habe ich dem Händler einen Auftrag erteilt. Diesen ganz simplen Plan habe ich ausgeheckt, um Selwyn umzustimmen. Denn auch bei uns fehlen Kissen; die beiden Sofas sind fast zu leer, Tigerfellkissen werden helfen. Auf den Basar komm ich fast nie. Reist ein Fellverkäufer her, muss ich zuschlagen, Alice. Schilt mich nicht, komm schon, Selwyn wird bald ein Einsehen haben, wenn alles fertig ist. Wäre es anders möglich?
Tigerfellkissen gehören meiner Meinung nach in jeden Salon, und die ganzen anderen Damen werden mich benei den!
Herzliche Grüße an dich und meine Tanten,
deine Schwester
Lilian
Tante Lambert und Alice wechselten ratlose Blicke.
»Könntest du das noch einmal vorlesen, meine Liebe?«, sagte Tante Pendleton. »Ich muss dich wohl missverstanden haben.«
»Wovon, um Himmels willen, spricht sie nur?«, sagte Tante Lambert.
»Hast du es nicht gehört? Sie ist nach ihrer langen Reise in dieses indische Provinznest völlig erschöpft. Oh, das arme Mädchen!«, rief Mrs Talbot die Ältere, die auf ein Sofa sank und sich mit einem Taschentuch Luft zufächelte.
»Aber Tigerfellkissen?«, sagte Tante Rushton-Bell. »Lilian hat doch gewiss kein Interesse an derlei Dingen?«
»In der Tat«, erwiderte Alice. »Und was meint sie nur mit ›mein über alles geliebter Gatte‹?«
»Ich glaube einfach nicht, dass Lilian etwas derart Profanes schreiben würde«, sagte Tante Lambert. »Hat sie den Verstand verloren? Ja, das Schreiben ist es kaum wert, überhaupt gelesen zu werden.«
»Und was ist mit dieser Fotografie?«, fragte Tante Statham. Sie hielt sie sich mit zitternden Händen vor die Nasenspitze. »Es sieht nicht sehr nach Lilian aus, auch wenn sie natürlich einen Hut aufhat. Vielleicht sollte man es mit Mrs Pendletons Lupe versuchen.«
»Was?«, sagte Alice. »Lilian ist nicht auf dieser Fotografie.«
»Entschuldige, meine Liebe«, sagte Tante Statham, »aber ich glaube doch. In der Mitte. Ich bin Künstlerin. Ich habe den Künstlerblick, und ich vergesse fast nie ein Gesicht. Ganz bestimmt nicht das Gesicht einer meiner eigenen Verwandten. Mrs Pendleton, deine Lupe, wenn ich bitten darf.«
Tante Pendleton stöberte in der Schublade der Anrichte und zog ein ledergebundenes Etui hervor, das sie mit zitternden Händen öffnete. Obgleich Alice ihre Ungeduld kaum im Zaum halten konnte, wartete sie, während Tante Pendleton langsam mit ihrem Schultertuch die glänzende Linse polierte. Endlich reichte sie ihr die Lupe.
Alice besah sich die Fotografie durch das Vergrößerungsglas. Die Gestalt im Zentrum des Arrangements war hochgewachsen und schlank und trug einen gewaltigen Tropenhelm. Die Hutkrempe warf einen Schatten über den oberen Teil des Gesichts, doch der Teil, der sichtbar war – die Kinnpartie, die von keinem
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