Handbuch für anständige Mädchen
– Lilian wie ein wunderschönes, schwarzes Insekt, Mrs Birchwoode wie die Puppe einer monströsen Raupe. Mr Hunter unterdrückte ein Lächeln. Vermutlich wäre ihm keine der beiden für den Vergleich dankbar.
»Captain Lewis hat recht, Ma’am«, sagte er. »Zwar bin ich in der Tat in Oudh und Sikkim gewesen, doch es handelt sich nicht um Orte, die Engländer üblicherweise aufsuchen. Ich bin natürlich inkognito dort gewesen und mit einem sehr kleinen Gefolge einheimischer Träger, auf der Suche nach Pflanzenarten, und auf diese Weise bin ich nicht aufgefallen. Doch einem Durchreisenden sei geraten, sich auf jeden Fall fernzuhalten. Wie lange diese Staaten ihre Unabhängigkeit bewahren können, ist, so traurig das für sie sein mag, eine andere Frage. Meines Wissens wird Oudh wahrscheinlich noch vor Jahresende fallen, wenn es das nicht schon getan hat. Im Anschluss wird es sicher Gewalt geben.« Er sah Lilian an. Er kannte die Region gut und hätte ihr den ganzen Abend davon erzählen können, wenn sie nur nachgefragt hätte. Er wusste, dass sie daran interessiert sein musste. Sie war immer neugierig bezüglich seiner Reisen gewesen. Bis er ihren Mund mit Küssen zum Schweigen gebracht hatte.
»›So traurig das für sie sein mag‹?«, rief Mrs Birchwoode. »Herrje, Captain Lewis, was sagen Sie dazu? Sollten die Eingeborenen in diesen Gebieten traurig darüber sein, dass sie vielleicht schon bald die Vorteile des Schutzes der Company genießen werden?«
»Gewiss nicht, Ma’am«, sagte Captain Lewis schroff. »Je früher es passiert, desto besser. Für alle.«
»Aber die Aneignung von Land schreitet viel zu schnell voran. Ja, Tausende Meilen indischen Territoriums sind allein im letzten Jahr an John Company abgetreten worden. Der Verlust dieser Ländereien und der dortigen Einnahmen wird den indischen Prinzen, den Nabobs, den Radschas, ja, der ganzen indischen Aristokratie, wohl kaum zusagen. Warum, um alles auf der Welt, sollten sie sich glücklich schätzen, ihre Einkünfte an den britischen Sircar zu verlieren? Zudem verursacht leider die Beseitigung einheimischer Riten und Bräuche gewaltige Unruhen. Dieser alte Narr Dalhousie, der auf seinem Sofa in Bengalen hockt, weiß nicht, was er tut.«
»Immer mit der Ruhe«, widersprach Captain Lewis in männlich ruppigem Ton. »Dalhousie ist ein anständiger Kerl.«
Mr Hunter sagte nichts mehr. Er war Captain Lewis schon begegnet und Hunderten seinesgleichen – energische Kerle, die aus dem Sattel schießen und in einem Kampf mit tödlicher Geschicklichkeit eine Machete führen konnten. Männer, die die Tapferkeit ihrer sepoys bewunderten, aber nicht begriffen, weshalb Sikhs und Brahmanen nicht die besten Freunde sein konnten. Männer, die gern tanzten und mit hübschen Mädchen liebäugelten, die die Texte von Liedern aus dem Variété kannten und darauf achteten, ihren hinduistischen Offiziersburschen mindestens einmal pro Woche zu verprügeln, damit er nicht anmaßend wurde. Captain Lewis, das wusste er, hatte nicht viel mehr als diese derben Aktivitäten im Sinn. Die Möglichkeit, die Honourable East India Company könnte nicht von jedermann geschätzt werden, war ein viel zu subtiler Gedanke.
»Sie sind anderer Meinung, Mr Hunter?«, erkundigte sich Mrs Birchwoode, die schläfrig blinzelte und sich kaum die Mühe machte, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Ganz und gar nicht, Ma’am. Wer könnte schließlich die Vorteile von hohen Steuern, Landenteignung, militärischer Besetzung und der Gelegenheit, beim Bau der Eisenbahn mitzuarbeiten, leugnen?«
Es herrschte bleiernes Schweigen. Captain Lewis räusperte sich und sah sehnsüchtig zu seinen Freunden am anderen Ende des Zimmers hinüber. Mr Hunter warf erneut einen Blick auf Lilian. Er war sich sicher, den Anflug eines Lächelns um ihre Mundwinkel zu entdecken. Er wusste, dass sie fasziniert wäre, dass sie allein sein Wissen und seinen Sarkasmus zu schätzen wüsste. Den Blick auf Lilian gerichtet, öffnete er den Mund, um etwas Geistreiches hinzuzufügen … doch Mrs Birchwoode hatte bereits das Interesse verloren. Sie hatte das Thema lediglich in der Hoffnung angesprochen, Captain Lewis ließe sich davon abhalten, sich zu seinen Freunden Captain Wheeler und Captain Forbes drüben bei der Punschschale zu gesellen.
»Endlich!«, rief sie, als ein Klavierakkord erklang, »Musik! Fanny, Liebes, du musst uns etwas vorsingen.«
»Ich würde lieber tanzen«, sagte Fanny verdrossen.
»Meine liebe Miss
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