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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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eine Sitzgruppe neben der Tür und führte sie zu einem charpoy, auf dem sich Kissen türmten.
    »Sind wir hier sicher?«, flüsterte Lilian.
    »Nicht sonderlich. Sind wir irgendwo in Indien sicher? Ich weiß ja, dass alles heiter wirkt, wenn Sie zu den Klängen von Mr Rutherfords Chopin-Interpretation tanzen, aber irren Sie sich nicht, das hier ist nicht England und auch kein Teil von England. Kushpur mag ruhig wirken, ja sogar langweilig, aber das liegt nur daran, dass Sie bei diesen grässlichen Leuten von der Company festsitzen.« Mr Hunter schien sich für sein Thema zu erwärmen. Er senkte die Stimme und lehnte sich vor. »Wir befinden uns hier näher am Vorgebirge als an Kalkutta oder gar Bombay, wissen Sie. Paschtunen, Sikhs, Belutschen, afghanische Banditen, wir haben viele Feinde. Und vergessen Sie nicht die Russen, die wie Schakale an den Seitenlinien kauern und auf eine günstige Gelegenheit warten. Ein paar dieser Leute sind bestimmt hier in Kushpur, auf diesem Basar. Vielleicht sogar in dieser Räuberhöhle.«
    Lilian warf argwöhnisch einen Blick über die Schulter, als erwarte sie, dass ein Paschtune, ein Sikh oder ein afghanischer Bandit mit seinem Krummsäbel nach ihr ausholte. Die Europäer in der Kolonie wurden gehasst und verabscheut. Diese Erkenntnis war seltsam erregend. Lilian lächelte vor sich hin und entschied, Mr Hunter das Reden zu überlassen. Schließlich war sie noch nie einem Mann begegnet, der nicht am allerliebsten dem Klang seiner eigenen Stimme lauschte. Im Moment war sie, Lilian, damit zufrieden, ihm zuzuhören und etwas zu lernen. »Wir befinden uns doch gewiss weit genug im Süden, um jeglichen Unruhen in diesen entlegenen Gebieten zu entgehen, oder?«, sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf, erleichtert, dass sie das Thema Heimat vergessen zu haben schien. »Ich weiß es nicht. Aber das hier ist immerhin Marathi-Land. Außerdem ist die Company selbst weiter im Süden nicht wirklich Herr. Die Hälfte dieses Mischmaschs aus einheimischen Staaten, die sie zu kontrollieren behaupten, sind genauso wild, wie sie schon immer waren, trotz der obersten Verwaltungsbeamten und Friedensrichter und Garnisonen überall. Sie werden immer noch von Prinzen und Nabobs regiert, die einem für ein Sixpencestück die Kehle durchschneiden würden.«
    »Dann gehe ich einmal davon aus, dass Sie das, was Sie Captain Lewis heute Abend gesagt haben, ernst gemeint haben?«
    »O ja. Die Annexion von Oudh ist in vollem Gange. Man wird Widerstand leisten, lassen Sie sich das gesagt sein. Ich kann nur hoffen, dass sich eine derartige Unzufriedenheit nicht ausbreitet und außer Kontrolle gerät.«
    »Aber derlei Dinge sind schon immer gesagt worden. Und es passiert doch nie etwas.«
    Mr Hunter nickte. »Ja, es steckt mehr Wahrheit dahinter, als den meisten Leuten klar ist, die sich auf ihren Chintzsofas in ihren gemütlichen Bungalows lümmeln. Bis es eines Tages längst zu spät ist.«
    »Und Sie haben dies bei Ihren Pflanzen-Sammel-Expeditionen in Erfahrung gebracht, wie ich vermute?«
    »Das habe ich. Ich bin überall in diesem Land gewesen. Ein paar der seltensten und interessantesten Exemplare finden sich an Orten, an denen sich kein Engländer aufhalten darf. Man schnappt auf Reisen die eine oder andere Information auf. Es wäre töricht, dies nicht zu tun. Aber hier bin ich und schwatze wie ein nervöser Schuljunge über Politik.« Er schenkte ihr ein scheues Lächeln. »Sie sind eine aufmerksame Zuhörerin.«
    »Ich bin äußerst interessiert.« Lilian nippte an ihrem bhang und erwiderte sein Lächeln.
    Mr Hunter schob sich über die Kissen näher an sie heran. »Ich war ein Narr, dass ich Sie verlassen habe«, hauchte er.
    »O ja, in der Tat«, sagte Lilian leichthin. Sie tätschelte seine Hand. »Aber jetzt haben wir doch Zeit, meinen Sie nicht?«



1
    Sobald die Tanten den Schutz des Treibhauses erreicht hatten, umringten sie Alice und redeten alle gleichzeitig auf sie ein.
    »Ist es wirklich ein Brief von Lilian?«
    »Was steht darin?«
    »Wo ist sie?«
    »Geht es ihr gut?«
    »Kommt sie nach Hause?«
    Alice zog das zerknitterte Kuvert aus der Tasche.
    »Soll ich ihn vorlesen, Alice, Liebes?«, schlug Mrs Talbot die Ältere vor und streckte eine spindeldürre Hand aus. »Ich habe eine schöne Lesestimme.«
    »Was ist noch darin?«, fragte Tante Lambert, die das Kuvert begierig angestarrt hatte. »Ich kann da ein Eckchen von noch etwas anderem sehen. Ist es noch ein Brief?«
    »Ich weiß es nicht«,

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