Handbuch für anständige Mädchen
Haben Sie ihn gesehen? Wissen Sie, wo er stecken könnte?«
»Ich bin mir sicher, dass er wieder auftauchen wird. Ich hoffe, es hat sich nichts Wertvolles darin befunden?«
Mr Blake zwang sich zu einem Lächeln. »Wertvoll nur für mich, Miss Talbot.« Er wischte sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn. »Miss Talbot, würde es Ihnen viel ausmachen, wenn wir dieses Gespräch im Wintergarten fortsetzen würden?«
Alice und Mr Blake bahnten sich einen Weg durch das Grün auf die großen Türen zu, die in den Wintergarten führten. Immer wieder machte Mr Blake einen Satz nach vorn und hielt das Blätterwerk zurück, damit Alice keine verwilderten Blätter und Kletterpflanzen ins Gesicht schlugen oder sie an den Haaren zogen. Doch die Vegetation war so dicht, dass es ihm bald unmöglich war, diesen Höflichkeitsdienst zu erfüllen, ohne den Anschein zu erwecken, er werde sie gleich umarmen. Zuerst dachte er, sie werde ihm sagen, er solle solch unnötige Ritterlichkeit bleiben lassen. Schließlich hatte sie diesen Weg schon tausendmal ohne seine oder sonst jemandes Hilfe bewältigt. Doch sie nickte nur, wobei sie ihn mit einem neugierigen Blick und einem matten Lächeln bedachte. Er lächelte zurück. In der feuchten und schwülen Atmosphäre war Mr Blake Alices Nähe geradezu peinlich. Ungläubig schüttelte er den Kopf – ihm, Henry Blake, sollte die Nähe einer Frau Unbehagen bereiten? Beinahe hätte er laut losgelacht. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine Schüchternheit gegenüber dem schönen Geschlecht an den Tag gelegt. Doch als nun Alices Röcke an seinen Beinen vorbeistrichen, verfärbten sich seine Wangen rosa – nicht dass Miss Talbot sein Unbehagen spüren konnte, sagte er sich, denn sein Gesicht war aufgrund der Hitze ohnehin puterrot.
Endlich erreichten sie die Tür zum Wintergarten. Eine nackte weibliche Gestalt spähte unsicher durch das Grün zu ihnen herüber. Es war der Sieg der Wahrheit über das Vorurteil.
»Haben Sie die allein hierhergeschafft?«, fragte Alice überrascht.
»Sluce hat mir geholfen, aber er war zu schwach, um von großem Nutzen zu sein. Und dann ist er verschwunden, als ich ihm einmal den Rücken zugekehrt habe.« Mr Blake zuckte mit den Schultern. »Diese vielen Wurzeln auf dem Pfad erschweren es, derart große Gegenstände ins Atelier zu manövrieren. Aber, na ja, sie ist beinahe dort.«
»Aber wollen Sie denn alles zum Fotografieren durch den Wintergarten schaffen? Die Standuhren? Die Rüstungen? Die Marmorstatuen? Mr Blake, die Aufgabe ist unmöglich.«
»Wir werden unsere Methoden den einzelnen Stücken anpassen müssen. Ich hätte gern mit kleineren Objekten angefangen – den orientalischen Vasen oder der mykenischen Keramik beispielsweise. Doch Ihr Vater hat ausdrücklichst darauf bestanden, dass ich diese Dame zuerst fotografiere. Das Licht im Esszimmer, ihrem eigentlichen Standort, ist schlecht, also habe ich mich entschlossen, sie herzuschaffen. Eine Entscheidung, die ich längst bereue. Ohne Hilfe bringe ich sie kein Stück weiter.«
»Ich helfe Ihnen.«
»O nein.« Mr Blake tupfte sich mit seinem durchnässten Taschentuch die scharlachrote Stirn ab und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Tür zum Wintergarten. »Ihre Hilfe als Träger benötige ich nicht. Ich hatte es auf Ihre Sachkenntnis als Fotografin abgesehen. Miss Talbot, darauf bestehe ich.«
»Ich ebenfalls, Mr Blake. Haben Sie diese Hände gesehen?« Sie streckte ihm starke, breite Handflächen entgegen. »Viel besser geschaffen, große Gegenstände zu transportieren, als mit Gobelinstickerei oder am Klavier herumzupfuschen. Ertragen Sie es noch ein wenig länger im Treibhaus? Darf ich vorschlagen, dass Sie Ihren Rock ausziehen und die Ärmel hochkrempeln? Gut. Sollen wir also anfangen?«
Gemeinsam schoben Mr Blake und Alice die Statue zentimeterweise über die unebenen Kacheln des Pfades. Mr Blake murmelte etwas vor sich hin, als er sich abmühte, ihren galvanisierten Sockel über eine borstige Wurzelknolle zu heben, die durch einen Heizungsschacht im Boden gebrochen war. Unter diesen Umständen würde er bis in alle Ewigkeit für Mr Talbot arbeiten und sperrige Kunstwerke durch einen ständig ausufernden häuslichen Dschungel schleppen. Er stieß ein verzweifeltes Seufzen aus. Was anfangs wie eine ideale Gelegenheit gewirkt hatte, der wachsenden Beanspruchung durch Mrs Cattermole zu entkommen, schien auf einmal eine viel anstrengendere und anhaltendere körperliche Tortur
Weitere Kostenlose Bücher