Handbuch für anständige Mädchen
zu sein. Er wischte sich erneut über die Stirn. Allmählich fühlte er sich wirklich recht schwach. Alice hingegen schien die Hitze überhaupt nichts auszumachen. Mr Blake beobachtete, wie sie einen der galvanisierten Oberschenkel der Wahrheit packte, die Schulter gegen eine bronzierte Brust stemmte und anhob. Als sich die Statue ruckartig vorwärtsbewegte, wurde Mr Blake nach hinten geschleudert.
Er verschwand spurlos, da sich eine große Menge breiter, glänzender Palmwedel wie Meereswellen über ihm schloss.
War er mit dem Kopf auf einem Stein aufgeschlagen? Mit Sicherheit ließ es sich nicht sagen. Er fühlte einen pochenden Schmerz im Kopf, so viel wusste er, doch das konnte an der Hitze liegen, zusammen mit der Kraftanstrengung von gerade eben, ganz zu schweigen von dem Schlafmangel und den Nachwirkungen des äthergetränkten Taschentuchs, auf das er wieder einmal im Kampf gegen seine Schlaflosigkeit zurückgegriffen hatte. In der Ferne rief eine Stimme seinen Namen, doch er verspürte kein Verlangen zu antworten. Alices Gesicht erschien über ihm, eingerahmt von dem Baldachin aus wippenden Blättern. Das Licht, das durch die Glasplatten des Gewächshausdaches drang, verwandelte ihre Haare in einen goldenen Heiligenschein. Sie lächelte. Von dieser Engelserscheinung überwältigt, erwiderte Mr Blake das Lächeln. Wie weich sich die Erde unter seinem Kopf anfühlte. Wie angenehm der Geruch nach feuchtem Lehm war, der seine Nasenlöcher füllte – Nasenlöcher, die leider an die olfaktorischen Attacken der Dunkelkammer gewöhnt waren. Er atmete tief ein. Die Hitze des Treibhauses wirkte so warm und liebevoll wie die Umarmung einer Mutter, das Pulsieren der Rohre unter dem Boden eins mit dem Klopfen seines Herzens …
Eine Hand packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn unsanft. »Mr Blake? Mr Blake?«
Mr Blake rappelte sich rasch auf. »Verzeihung, Miss Talbot. Ja, ja, mir geht es so weit gut, danke. Außer Atem, aber glimpflich davongekommen.« Erfolglos machte er sich an einem weiteren grünen Fleck zu schaffen, der nun seine Weste verunzierte. »Ich habe vergangene Nacht wenig geschlafen, was zu meiner Anreise aus London und den Stunden hinzukam, die ich mit Ihrem Vater in den Stallungen auf Mäuse gewartet habe, die in seine ewige Mausefalle gehen sollten. Und dann noch die Hitze hier … und natürlich habe ich das Frühstück versäumt.«
»Möchten Sie sich hinsetzen? Vielleicht ein Glas Wasser? Warum haben Sie nicht gut geschlafen? Ist Ihr Zimmer nicht zu Ihrer Zufriedenheit gewesen?«
»Völlig zufriedenstellend, danke.« Mr Blake ließ sich zum Mobiliar der Tanten führen. Zu seiner Erleichterung war keine von ihnen anwesend. Er nahm das Glas Wasser entgegen, das Alice ihm brachte, und stürzte es in durstigen Schlucken herunter.
»Was hat denn dann nicht gestimmt?«, meinte Alice beharrlich. »Warum konnten Sie nicht schlafen?«
»Ich leide an Schlaflosigkeit.«
»Aber Sie sind Fotograf. Sie brauchen nicht … ohne Schlaf auszukommen.«
Mr Blake zog die Brauen empor. Anscheinend hatte er sie wieder einmal unterschätzt.
»Sie bedienen sich doch des Kollodiumprozesses und nicht der Kalotypiemethode?«, fuhr Alice munter fort. »Das müssen Sie, ansonsten werden Sie in der Tat ewig hier sein.«
»Ja, Miss Talbot.«
»Tja, dann haben Sie alles, was Sie brauchen.«
Hatte sie seine Schwäche bereits erahnt? Vielleicht stellte sie ihn gerade auf die Probe. Eilig setzte er eine verwirrte Miene auf. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
Alice schnalzte mit der Zunge. »Und als ausgebildeter Arzt müssen Ihnen doch seine medizinischen Verwendungsmöglichkeiten vertraut sein. Ich spreche von Äther, Mr Blake. Der Stoff ist Ihnen doch gewiss bekannt? Er spielt eine zentrale Rolle beim Kollodium-Nassplatten-Verfahren. Sie müssen für Ihre Arbeit über einen beträchtlichen Vorrat verfügen. Sie könnten sich unmöglich rühmen, ein moderner Fotograf zu sein, wenn dem nicht so wäre.« Sie funkelte ihn an. »Man kann die Dämpfe einatmen, was eine beachtliche einschläfernde Wirkung hat. Kommen Sie schon, Mann. Sie wissen ganz genau, was ich meine.«
Mr Blake verspürte das Bedürfnis, ihr sein Herz auszuschütten. Sie war aufgeschlossen und freimütig. Ein unabhängiger Geist. Sie hätte doch gewiss Mitleid mit ihm, zumindest hätte sie Verständnis. »Ich habe ihn viele Male hergenommen«, sagte er mit einem reumütigen Lächeln. »Aber die Träume, die mich heimsuchen –
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