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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Backenbart oder dergleichen geschmückt war, die vereinzelte Haarsträhne, die entkommen war und die Wange ihres Besitzers kitzelte, das halb belustigte Lächeln – Tante Statham hatte recht. Es war Lilian. Alice errötete. Wie hatte sie ihre eigene Schwester nicht erkennen können?
    Jetzt betrachtete sie das Gesicht durch die Lupe, das ihr vorhin bekannt vorgekommen war. Der Mann im Profil, groß, mit dunklen Augen und schwarzen Koteletten. »Der Mann am Ende der Reihe«, sagte sie zaghaft zu Tante Statham, »erkennst du ihn auch wieder?«
    Tante Statham griff nach der Lupe. »Er kommt mir bekannt vor«, sagte sie einen Augenblick später. »Es ist Lilians Gatte, nicht wahr? Mr Fraser?«
    »Nein«, sagte Alice. »Mr Fraser ist nicht auf dem Bild.«
    »Wer ist dieser Kerl dann?«, fragte Tante Statham mit einem Stirnrunzeln. »Ich kenne sein Gesicht.«
    »Ich auch«, sagte Tante Lambert, als sie durch das Glas starrte. »Ich würde ihn überall wiedererkennen.« Sie blickte rasch zu Alice auf. »Aber er kann es doch gewiss nicht sein.«
    »Wer denn?«, riefen die Tanten im Chor. »Wer kann es nicht sein?«
    Alice nickte. »Ja«, sagte sie. »Es ist Mr Hunter.«
     
    Am folgenden Morgen las Alice den Brief ihrer Schwester noch einmal. Sie schob die Pflanzenblätter beiseite, die sich gegen die Glaswände des Treibhauses drückten, und hielt die zerknitterte Seite hoch ins Licht der Frühlingssonne, um zu sehen, ob Lilian mit einem trockenen Füllfederhalter eine geheime Botschaft in das feuchte Papier geritzt hatte. Doch selbst mithilfe von Tante Pendletons Lupe ließ sich nichts erkennen. Niedergeschlagen schüttelte Alice den Kopf. »Tigerfellkissen«? »Mein über alles geliebter Gatte«?. Ja, manche Sätze ergaben kaum Sinn. Und dennoch … Alice faltete den Brief noch einmal auf. Vielleicht hatte sich Lilian einer Geheimschrift oder einer Art Code bedient, um mit ihr zu kommunizieren?
    Alice wurde aus ihren Gedankengängen gerissen, als sie hörte, wie sich jemand in ihre Richtung durch das Treibhaus kämpfte. Sie vernahm ein Ächzen, als sich ein Fuß an einer offen liegenden Wurzel verfing, gefolgt von einem dahingemurmelten Fluch und heftigem Blättergeraschel. Als sie Lilians Brief in ihre Tasche gleiten ließ, tauchte das rote Gesicht des Fotografen zwischen den Wedeln einer gewaltigen Bergpalme auf.
    »Guten Morgen, Mr Blake.« Alice reagierte weder beunruhigt noch angewidert auf seine unordentliche Erscheinung. »Wir haben Sie beim Frühstück vermisst. Meine Tanten nahmen an, Sie seien abgereist. Mein Vater nahm an, Sie seien bereits bei der Arbeit.«
    Mr Blake trat vor, wobei er sich hastig einen Zweig aus den Haaren entfernte. »Und darf ich fragen, was Sie dachten?«
    »Ich?« Alice blinzelte. »Ich habe mir gar nichts gedacht.«
    »Selbstverständlich.« Die Wangen des Fotografen nahmen einen noch dunkleren Rotton an. Er zog ein Taschentuch hervor und machte sich daran, einen grünen Fleck auf dem Ärmel seines Hemdes abzutupfen. »Es ist vielmehr so, Miss Talbot, dass ich das Frühstück verpasst habe, weil ich die Gartenanlagen erkundet habe. Der Wintergarten sieht von draußen aufsehenerregend aus, besonders im rosigen Licht bei Tagesanbruch. Dann bin ich aufs Dach gestiegen, durch eine Falltür im Dachgeschoss. Die Aussicht ist ganz außerordentlich.«
    »In der Tat«, sagte Alice, als sei es ganz normal, bei der Ankunft in jemandes Haus auf das Dach zu klettern. »Eine ausgezeichnete Idee. Bei klarem Wetter sieht man bis nach Bispham St. Michael hinüber. Manchmal ist das Licht geradezu strahlend.«
    »Aber ja, Miss Talbot. Ganz genauso ist es gewesen.« Mr Blake öffnete den Mund, als wolle er dem noch etwas hinzufügen. Alice wartete höflich ab, doch er schien es sich anders zu überlegen. Er betrachtete sie schweigend. »Miss Talbot, Ihr Vater meinte, ich solle mich an Sie wenden«, sagte er unvermittelt. »Er sagte, Sie würden nichts dagegen haben, meine … meine Gehilfin zu sein. Natürlich nur, solange es keine Auswirkungen auf Ihre anderen Pflichten bezüglich der Sammlung hat. Darauf hat er ganz besonders großen Wert gelegt.«
    »Das glaube ich gern«, murmelte Alice. »Und wie sehen Sie die Situation?«
    »Etwas Gesellschaft wäre mir lieb. Damit will ich sagen, Ihre Gesellschaft wäre mir lieb.«
    Alices Gesicht blieb ausdruckslos, als sie den Blick des Fotografen erwiderte. »Haben Sie Ihren Schrankkoffer gefunden?«, fragte sie.
    »Was? Nein. Nein, den habe ich nicht gefunden.

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