Handbuch für anständige Mädchen
früher, wenn er mit einer Frau an einem beengten Ort verborgen gewesen war, auch Zugang zu jeglichen Freuden verschafft hatte, die sich unter ihren Röcken finden ließen. In letzter Zeit hatten solche Liebeshändel in Besenschränken, Speisekammern und Ankleidezimmern stattgefunden, die Mrs Cattermole bevorzugte.
In der Düsterkeit des Zeltes betrachtete Mr Blake Alices Gesicht im Profil, während sie arbeitete. Tageslicht drang durch das Fensterquadrat aus rot gefärbtem Musselin herein, und der rosafarbene Schein verlieh ihr eine gesunde Röte und ließ den Flaum auf ihrer Oberlippe unsichtbar werden, sodass Mr Blake sich fragte, ob er ihn sich nur eingebildet hatte. Selbstverständlich, sagte er sich, hatte er eine Schwäche für Schönheit, und die weibliche Gestalt in all ihren Manifestationen ließ sich immer als schön betrachten, auf die eine oder andere Art und Weise. Die Ästhetik des weiblichen Gesichts und der weiblichen Figur – eine Wange mit Grübchen, ein schlanker Hals, eine hübsche Taille, ein zierlicher Fuß –, diese Dinge stellten seine künstlerische Inspiration dar. Als Mann (und welch Tiere Männer doch waren) konnte er nichts dagegen tun, dass sie ihn gelegentlich auch zu einer körperlicheren Reaktion inspiriert hatten.
Und dennoch ließ sich nicht leugnen, dass Alice Talbot etwas an sich hatte, das er zunehmend unwiderstehlich fand. Vielleicht könnte er sie überreden, sich von ihm fotografieren zu lassen. Porträts waren seine Spezialität gewesen, bevor er sich von Dr. Cattermoles Leichenhalle und den Artefakten in Mr Talbots Sammlung hatte ablenken lassen. Und dann fielen ihm wieder die anderen Porträts ein, die er angefertigt hatte: die Porträts, die er in der verborgenen Tasche an der Rückseite seines Schrankkoffers aufbewahrte – seines verschwundenen Schrankkoffers. Er wand sich innerlich bei dem Gedanken und zog rasch die Hand zurück, die er Alice soeben auf den Arm hatte legen wollen.
Alice hatte Mr Blake aus dem Augenwinkel beobachtet. Sie fragte sich, was er sich wohl denken mochte, als er sich zu ihr herüberlehnte, doch wegen der Schatten gelang es ihr nicht, seine Miene zu deuten. Insgeheim hegte sie den Verdacht, dass er ziemlich viel Ehrfurcht vor ihr hatte – offensichtlich war ihm noch nie zuvor eine Frau begegnet, die als Gleichberechtigte mit ihm sprach. Ebenso wenig schien er an Frauen gewöhnt zu sein, die auf seine Versuche in Sachen Galanterie nicht mit einem neckisch verschämten Lächeln und einem Klimpern der Wimpern reagierten. Anfangs schien es ihn zu überraschen, dass Alice nichts dergleichen tat. In letzter Zeit wirkte er einfach nur erleichtert. Jetzt sah sie zu, wie er die Hand nach ihr ausstreckte … und sie dann mit beschämter und erschrockener Miene zurückzog.
»Vielleicht sollten wir aufhören«, sagte Alice. »Die Dämpfe hier drinnen werden allmählich geradezu unerträglich.«
»Ganz meine Meinung. Zehn Minuten Pause?«
»Ich dachte eigentlich an mehr als zehn Minuten.«
»Aber Ihr Vater meinte …«
»Mein Vater ändert seine Meinung häufig. Und ich weiß mit Sicherheit, dass er nach London abgereist ist. Er trifft sich mit Ihrem alten Freund aus der Leichenhalle, Dr. Cattermole. Dr. und Mrs Cattermole sollen zu Besuch kommen. Sie werden ihn morgen hierher begleiten. Zweifellos werden Sie erfreut sein, sie zu sehen? Mr Blake, geht es Ihnen nicht gut?«
»Ich brauche Luft«, murmelte er. Er schlüpfte aus dem dunklen Zelt und trat ans Fenster. Unter ihm erstreckte sich die glänzende gewaltige Glasfläche des Wintergartens.
»Vielleicht könnten wir aufs Dach steigen«, sagte Alice einen Augenblick später. »Heute scheint die Sonne, und der Wind ist frisch. Es ist genau der richtige Ort, um einen klaren Kopf zu bekommen.«
Sie gingen durch die voll gestopften Korridore des Großen Hauses. Mittlerweile kannte sich Mr Blake beinahe genauso gut aus wie Alice, auch wenn er immer noch auf gewisse Artefakte als Wegweiser angewiesen war. Am Kopf der Treppe im vierten Stock stand eine Vitrine mit einem aufwendig bestickten roten und gelben Seidenkimono. Das Geschenk des Inhabers einer Importfirma für japanisches Porzellan (und ebenfalls Mitglieds der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens) an Mr Talbot war im Innern eines Glasschaukastens wie ein ungeheurer Schmetterling festgesteckt. Dieses leuchtende Kennzeichen verriet Mr Blake, dass sie sich gegenüber der Tür befanden, die zum Speicher
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