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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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»Und warten Sie auf eine starke Bö.«
    »Wie ich sehe, gehören meine Stiefel gereinigt«, murmelte Mr Blake. Er breitete die Arme aus, als der Sturm um ihn her gellte und pfiff, an seinem Rock und seinen Hosen zerrte wie an den Segeln eines Schiffes.
    »Lehnen Sie sich hinein!«, rief Alice.
    Mr Blake beugte sich vor. Der Wind hielt ihn in seiner unsichtbaren Umarmung.
    Alice lachte und klatschte in die Hände, als Mr Blakes Haare um seinen Kopf tanzten. Sein Körper schwankte in den Sturmböen und Luftströmen, und er jauchzte und bewegte die Arme auf und ab, als werde er gleich auf den Park hinab stoßen, der sich wie ein frisch gedeckter Tisch unter ihnen erstreckte. Er wandte den Kopf, um ihr etwas zu sagen … doch just in dem Moment legte sich der Wind. Mr Blake machte eine ruckartige Bewegung und verlor am Dachvorsprung das Gleichgewicht. Seine Füße glitten über die bleiernen Abflussrinnen, und er fuchtelte wild mit den Armen, während er sich abmühte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Alice vernahm einen Angstschrei und stellte erstaunt fest, dass er den weit geöffneten Lippen des Fotografen entschlüpft war.
    Sie packte ihn am Kragen und riss ihn mit einem Ruck vom Abgrund zurück. »Lehnen Sie sich nicht so weit hinaus«, sagte sie. Sie sprach, als gebe sie einem Kind einen harmlosen, erzieherischen Rat wie »iss nicht so viel Kuchen« oder »geh nicht zu spät ins Bett«, anstatt der Bestürzung über die Aussicht auf Mr Blakes vorzeitigen Tod Ausdruck zu verleihen. »Es hilft, einen klaren Kopf zu bekommen, finden Sie nicht?«, fügte sie hinzu, ohne auf seine gespenstische Blässe zu achten. Sie tätschelte ihm den Arm. »Gleich werden Sie sich besser fühlen. Schließlich gehört die Angst zum Vergnügen.«
    »In der Tat«, krächzte Mr Blake.
    Alice nahm ihn beim Arm und führte ihn zu einer Steinbank im Schutz eines gewaltigen Schornsteinkastens. Schweigend ließen sie den Blick über den Park schweifen, die Gesichter instinktiv der Frühlingssonne zugewandt.
    »Früher bin ich ständig mit Lilian hier heraufgekommen«, sagte Alice.
    »Sie müssen sie vermissen«, sagte Mr Blake einen Augenblick später, als habe er nach bedeutsameren Worten gesucht, sie aber nicht gefunden.
    »Ja«, sagte Alice. »Sehr.«
    »Sie schreibt Ihnen, wie ich annehme?«
    »Ich habe einen Brief, ja.«
    »Nur einen?«
    »Ja.«
    Alice zögerte. Sie hatte den Brief ihrer Schwester so oft gelesen, dass er auseinanderzufallen drohte. Trotz ihrer Überzeugung, dass der Brief verschlüsselt war, war sie nicht in der Lage gewesen, den Code zu ergründen, und die Lilian, an die sie sich erinnerte, blieb gefangen in einer langweiligen Welt aus Damensalons und Tigerfellkissen. Vielleicht hatte Alice es zu krampfhaft versucht.
    »Mr Blake«, sagte sie endlich, »sind Sie gut im Entziffern von Geheimschriften?«
    »Die Art, die Liebende verwenden, um Telegramme zu verschlüsseln? Oder persönliche Anzeigen?«
    Alice beobachtete, wie er errötete. Zweifellos waren seine eigenen amourösen Treffen gelegentlich über die Seiten mit den persönlichen Anzeigen in der Times arrangiert worden – zärtliche Worte der Sehnsucht oder Forderungen nach atemlosem Liebesspiel unter dem Deckmantel von Grüßen an entfernte Freunde, die Ankündigung von Zugzeiten oder der Bitte um die Rückgabe abhandengekommenen Geflügels.
    »Ich besitze eine gewisse Sachkenntnis«, räumte er ein. »Ist er nach Worten, Sätzen oder Buchstaben verschlüsselt? Oder ist es vielleicht ein Steganograph? Letzterer ist vielleicht am einfachsten zu knacken, kann allerdings schwierig zu schreiben sein. Ergibt der chiffrierte Text selbst als Botschaft einen Sinn?«
    »Ja.«
    »Haben Sie es mit jedem zweiten oder dritten Wort versucht? Oder vielleicht jedem vierten Wort, falls der chiffrierte Text lang ist?«
    Alice zog die zerknitterte Nachricht ihrer Schwester hervor. »Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen«, sagte sie. »Und ich bin so erpicht darauf zu erfahren, was sie mir schreibt, dass ich nicht länger klar denken kann. Vielleicht habe ich etwas Komplizierteres erwartet – letzte Nacht bin ich aufgeblieben und habe Mr Babbages Monographie über Kryptographie gelesen. Anschließend war ich verwirrter als vorher. Jedes dritte Wort, sagen Sie? Könnte es denn derart einfach sein?«
    »Oder vielleicht jedes vierte. Oder jedes vierte Wort eines jeden Satzes.«
    Alice starrte Lilians Brief an. Auf einmal löste sich das Rätsel vor ihren Augen. Warum hatte

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