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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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führte.
    Zu ihrer Verwunderung stand die Falltür, die auf das Dach hinausführte, bereits offen. Ein Viereck blauen Himmels erhellte die Staubdecken, die die zahlreichen Bewohner des Dachgeschosses verhüllten – Stücke der Sammlung, die kaputt gegangen oder altmodisch waren –, sodass diejenigen Exemplare in den entlegensten Winkeln des Dachgesimses in dem unerwarteten Licht wie Gespenster schimmerten.
    »Wer sonst würde hier hochkommen?«, fragte Mr Blake überrascht. »Ihre Tanten?«
    »Das bezweifle ich.«
    »Ihr Vater?«
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass er fort ist.«
    »Ja, natürlich.« Mr Blake erklomm die steile, leiterähnliche Treppe, die auf das Dach hinausführte. »Wie dem auch sei, wir werden es wohl bald herausfinden.«
    »Sehen Sie sich nur diese Spuren auf dem Boden an«, sagte Alice hinter ihm. »Jemand hat hier etwas Schweres entlang gezogen.« Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen nach oben und blinzelte in das grelle Licht. »Ist dort oben jemand?«
    »Nicht dass ich sehen könnte.« Mr Blake trat auf das Dach hinaus. Er streckte die Arme und atmete die beißende Frühlingsluft tief ein.
    »Wir können dort drüben vor dem Wind Schutz suchen«, sagte Alice und deutete auf einen der gewaltigen Schornsteinkästen aus Ziegelstein, die wie Festungen in den Himmel ragten. Sie zögerte, bevor sie Mr Blakes dargebotene Hand ergriff, als sie mühsam auf das Dach hinauskletterte.
    »Ich weiß, dass Sie ohne meine Hilfe zurechtkommen«, sagte er. »Doch ich kann nicht alle Höflichkeit fahren lassen. Abgesehen davon müssen diese Röcke schrecklich hinderlich sein. Besonders, wenn man bei starkem Wind die obersten Stufen einer steilen Treppe erklimmt. Vielleicht sollte ich Sie auch am Arm halten. Schließlich könnte der Wind Ihr Kleid ergreifen und Sie nach Bispham St. Michael fegen wie den Samen einer Pusteblume.«
    Alice hasste Galanterien. Doch dieses Mal lächelte sie – und ergriff seinen Arm.
    Zuerst schlenderten sie zu dem niedrigen Eisengeländer, das das flache Dach von den steil abfallenden Schieferplatten abgrenzte. Der Wind peitschte ihnen scharf ins Gesicht, kalt und unerbittlich, sodass sie keuchend nach Atem rangen, als er ihnen in Mund und Nase blies. Alices Röcke bauschten sich und flatterten um ihre Beine.
    Mr Blake hielt ihren Arm dicht an sich gepresst. »Ist Ihnen kalt?«
    »Nein.« Alices Haare waren fest nach hinten gebunden, doch der Wind zerrte daran, sodass sich einzelne Strähnen lösten und ihr wie Bänder ums Gesicht wehten. »Ich liebe es hier oben. Ich komme mir vor, als könnte ich fliegen, Sie nicht? Schauen Sie mal.« Sie trat von ihm weg, breitete die Arme aus und beugte sich vorwärts über den Abgrund des Dachvorsprungs, in den Sturm. Mr Blake sah zu, wie sie vom Wind durchgerüttelt wurde und ins Schwanken geriet. Wenn der Luftstrom sich unvermittelt legte, würde sie hinabstürzen.
    »Miss Talbot, bitte!«, schrie Mr Blake entsetzt.
    »Lilian und ich haben immer geschaut, wer das hier am längsten aushalten konnte«, rief sie. Der Wind entriss ihren Lippen die Worte, sobald sie ausgesprochen waren. »Warum versuchen Sie es nicht?«
    »Wenn Sie es schon tun müssen, dann kommen Sie zumindest vom Vorsprung zurück. Sie könnten abstürzen.«
    Alice lachte, »Aber genau darum geht es doch, Mr Blake«, und beugte sich weiter vor. Mittlerweile waren die meisten ihrer Haare lose. Sie flatterten hinter ihr, das Drahtige durch den Wind geglättet und voll goldener Fäden, die im Schein der Frühlingssonne glitzerten.
    Endlich trat sie zurück. Ihr Antlitz wurde von je einem Farbfleck hoch auf beiden Wangenknochen erhellt, und ihre Augen funkelten, während sie sich die Haare wieder zu einer Art Ordnung zurecht steckte. Der Fotograf starrte sie an, mit offenem Mund, nach Luft schnappend. Vielleicht überwältigte ihn so viel kalte Luft nach der warmen Schwüle der Dunkelkammer, dachte Alice. Vielleicht schockierte es ihn, eine Dame zu sehen, die sich derart tollkühn benahm.
    »Wollen Sie es denn nicht selbst versuchen?« Alice schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Sie könnten Gefallen daran finden.«
    Sie sah zu, wie Mr Blake nervös an den Dachvorsprung trat, an dem sie nur einen Moment zuvor gestanden hatte. Die Dachschiefer fielen in einer kurzen flechtenbefleckten Schräge von seinen Stiefelspitzen ab, doch ansonsten gab es da nur Luft und Raum und das Geräusch dahinbrausenden Windes.
    »Sehen Sie nicht nach unten«, flüsterte ihm Alice ins Ohr.

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