Handbuch für anständige Mädchen
sie es nicht vorher gesehen? »Jedes vierte Wort eines jeden Satzes!«, rief sie. »Abgesehen vom letzten, der vielleicht bloß dazu da ist, die oberflächliche Botschaft glaubhafter zu machen. Mr Blake, vielen Dank.« Wie einfach es schien, doch es war ihr entgangen, und sie hatte tagelang nach etwas gesucht, worauf Mr Blake sie in Sekundenschnelle hingewiesen hatte. Wie ich mich nach dir sehne, las sie, Alles bestens. Leben keine Qual. Große Überraschung – das unerwartete Erscheinen von Mr H. Schwört ewige Liebe. Drollig, oder? Mein Gatte weiß nichts. Ich habe einen Plan, um uns beiden zu helfen. Komm her, Alice. Komm bald, wenn möglich.
Alice las sich die Botschaft noch einmal durch. »Einen Plan, um uns beiden zu helfen«. Bezog sich Lilian auf sich und Mr Hunter oder auf sich und ihre Schwester? Alice runzelte die Stirn. Es war wirklich nicht allzu klar. Und sie wusste bereits dank der Fotografie, dass Mr Hunter aufgetaucht war. Und wie sollte sie, Alice, nach Kushpur gelangen? Gesetzt den Fall, dass Lilian noch dort war. Abgesehen davon war seit dem Verfassen des Briefes ziemlich viel Zeit verstrichen. Alles Mögliche hätte Lilian seitdem widerfahren können … Auf einmal wurde Alice sich bewusst, dass Mr Blake sie erwartungsvoll anstarrte. Sie faltete den Brief zusammen und ließ ihn zurück in ihre Tasche gleiten. »Vielen Dank«, wiederholte sie bestimmt. Der Wind legte sich. Zwischen ihnen herrschte Schweigen.
Alice räusperte sich. »Bereitet Ihre Aufgabe Ihnen also Freude?«, fragte sie.
Mr Blake zuckte mit den Schultern. »Teilweise«, sagte er. »Die Marmorstatuen sind gut geworden. Und die galvanisierten Figuren. Aber die landwirtschaftlichen Maschinen sind recht langweilig gewesen, wie ich gestehen muss.«
»Wir sind hier ein wenig abgeschieden. So muss es Ihnen vorkommen, besonders nach London. Sie werden bestimmt froh sein, Dr. Cattermole wiederzusehen. Und seine Gattin. Man sagt, sie sei eine bekannte Schönheit.«
»Das hat Dr. Cattermole mir auch schon gesagt.«
»Sie sind ihr nicht begegnet? Aber ich nahm doch an …«
»Ich bin ihr begegnet.«
»Na, dann.«
Mr Blake starrte niedergeschlagen auf den Park hinaus.
»Und wie ich höre, spricht sie sehr herzlich von Ihnen.«
»Tut sie das?«, sagte er ohne rechte Überzeugung.
»Das hat mein Vater gesagt.«
Mr Blake musterte seine verschmutzten Fingernägel. »Wir müssen mehr Äther bestellen. Unsere Vorräte neigen sich dem Ende zu.«
»Was, schon?«
»Er verdunstet schnell, wenn er einmal der Luft ausgesetzt ist.«
»Das weiß ich, aber trotzdem, wir können nicht so viel verbraucht haben. Ist Ihnen ein Missgeschick damit passiert?«
Er zögerte. »In gewisser Weise«, murmelte er.
Alice sah Mr Blake prüfend an. Sein Teint war blass, mit dunklen Hautpartien um die Augen. Seine Haare, die einst im Kerzenschein an der Tafel ihres Vaters geglänzt hatten, wirkten jetzt stumpf und leblos, die dunklen Locken lagen flach gedrückt an seinem Kopf an. Sein Lächeln war so breit und strahlend wie eh und je, obgleich sich an seinem Mundwinkel eine deutliche wunde Stelle gebildet hatte, die ihn, wie ihr nun auffiel, daran hinderte, sein besonders blendendes Lächeln aufzusetzen, bei dem auch seine Zähne zu sehen waren. Ein gut aussehender Mann. Alice lächelte vor sich hin. Vor seiner Abreise nach London hatte ihr Vater erzählt, man habe ihn davon unterrichtet, dass Mr Blake die Stadt mit einem gewissen Ruf bei manchen Damen seiner Bekanntschaft verlassen habe. Er wolle keine Namen nennen, und es sei ja nicht so, dass er, Talbot, auch nur im Geringsten an Klatsch interessiert sei, aber niemand anders als Eliza Cattermole höchstpersönlich sei mit ihm in Zusammenhang gebracht worden. Selbstverständlich hatte Mr Talbot dies in der Überzeugung erzählt, dass ein solcher Mann kein Risiko für Alice darstellte. Nicht nur, weil sie als seine einzige ihm verbliebene Tochter ihren Platz kannte, sondern auch, weil er fest daran glaubte, dass sie niemals die Sammlung im Stich lassen würde. Außerdem (und diesen letzten Gedanken hatte Mr Talbot zur Abwechslung einmal nicht ausgesprochen) war sie viel zu reizlos, um von einem Schwerenöter wie Mr Blake den Hof gemacht zu bekommen.
Die Gerüchte um Mr Blakes Liebelei mit Mrs Cattermole hatten Alice nicht entsetzt, sondern eher ihre Neugierde geweckt. Aus diesem Grund hatte sie die Dame ihm gegenüber direkt angesprochen, und die niedergeschlagene Reaktion des Fotografen überraschte
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