Handbuch für anständige Mädchen
Mätzchen eines Tanzbären. Aber man muss nicht einer von ihnen werden, um diese Neugier zu stillen.« Seufzend schüttelte er den Kopf. »Sie mögen sich dessen nicht bewusst sein, aber an einem Ort wie Kushpur gibt es viel Klatsch. Insbesondere die Damen haben nicht genug Beschäftigung, und ich fürchte, sie können … ungnädig sein. Sie beschreiben Sie bereits als … wie soll ich es ausdrücken … als bibi .«
Dr. Mossly lächelte Lilian von unter seinen rötlich braunen Augenbrauen hervor an. »O ja«, sagte er. »Ab und an vielleicht ein wenig kedgeree, aber keine hookahs, keine Saris.«
»Und damit Sie so viele Zerstreuungen wie möglich finden, um eine Beschäftigung zu haben, darf ich vorschlagen, dass Sie den Residency-Ball mit mir besuchen«, sagte Mr Vine. »Ich weiß doch, wie gern Sie Damen tanzen …« Er lächelte. »Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Bitte nehmen Sie sich ein wenig Zeit, um sich mein Angebot durch den Kopf gehen zu lassen.«
Lilian nickte zum Dank und sah aus dem Fenster. Sie hegte keinerlei Absicht, irgendeinen Ball mit Mr Vine zu besuchen, auch wenn sie es nicht übers Herz brachte, ihm dies vor Dr. Mossly, seinem Rivalen in Liebesdingen, zu sagen. Doch Mr Vine war noch nicht fertig. Er zögerte, in seiner Miene spiegelte sich Unsicherheit, und sein Mund war leicht geöffnet, als müsse es der Satz, den er gleich ausspräche, erst noch bis zu seiner Zungenspitze schaffen. Es sah dem Friedensrichter nicht ähnlich, nicht zu wissen, wie er seinen Gedanken Ausdruck verleihen sollte, dachte Lilian. Welche neue Ungeheuerlichkeit würde er gleich enthüllen? Sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Lilian wappnete sich …
»In der Zwischenzeit«, sagte er, wobei seine Stimme auf einmal lauter wurde, »habe ich bei einem burra din anwesend zu sein, morgen Abend. An den kalee-ghat- Badestufen. Das ist bloß etwa eine Meile von Kushpur entfernt. Die Garnison wird dort sein, um die Menge im Zaum zu halten, und ich bin zur Teilnahme verpflichtet … Vielleicht hätten Sie Lust, mich zu begleiten? Es sollte eine recht angenehme Fahrt dorthin sein, und Sie könnten es interessant finden.«
Lilian blinzelte. Hatte sie ihn richtig verstanden? »Aber ja!«, stieß sie hervor. »Es ist sehr gütig von Ihnen, mich zu fragen. Aber das ist doch ein einheimisches Fest, oder etwa nicht?«
»Das ist es.«
»Ich verstehe.« Sie lächelte. Wie konnte sie ihn zurückweisen? »Danke, Mr Vine. Ich freue mich schon.«
Dr. Mossly sah niedergeschlagen aus. Er wünschte, er hätte ein solches Angebot gemacht, auch wenn er nicht begriff, weshalb der Friedensrichter es auf einmal für angebracht gehalten hatte, Mrs Fraser zu einem solchen Anlass mitzunehmen. Er seufzte. Dr. Mossly war ein wenig älter als Mr Vine, und während der Friedensrichter von hochgewachsener und dünner Statur war, mit hervorstehenden Knien und Ellbogen und einem knochigen Grabesschädel, war der Arzt klein und dick, sein Körper war mit einer dicken Speckschicht bedeckt und von rosafarbener Haut umhüllt, die sich in zitternden Falten an seinem Kinn sammelte und in seinem Nacken sanft über seinen Kragen schob. Er wusste, dass er eine geradezu absurde Knollennase hatte, aber für eine Missionarswitwe war er eine gute Partie. Er hob sich das Taschentuch ans Gesicht und bedeckte die Nase, als stünde er im Begriff zu niesen. Es war eine nervöse Angewohnheit, die er sich in seiner Jugend zugelegt hatte, ein Verlangen, sein unschönstes Attribut zu verbergen. Wohlgemerkt, dachte er und beäugte Lilian über den Rand seines Taschentuchs: Als Mrs Fraser die Kleidung ihres verstorbenen Gatten in die Missionsgesellschaft gebracht hatte, war die Anzahl von Anzügen, Jacketts, Stiefeln, Schuhen, Hemden und Pflegeutensilien, die Mr Fraser besessen hatte, viel größer und von viel besserer Qualität gewesen, als man im Allgemeinen in den Schränken eines Mannes seines Standes vorzufinden erwartete. Vielleicht ist sie gar nicht so schlecht gestellt, überlegte er und sah sich mit Interesse in dem Salon um. Vielleicht bedarf sie gar nicht so sehr eines Ehemannes, wie wir denken. Er sah Mr Vines lächelndes Gesicht in dem Spiegel über dem Kamin. Wie borstig die Nasenlöcher des Friedensrichters waren und wie braun seine Zähne. Nie zuvor waren ihm diese Mängel an seinem Freund aufgefallen, doch jetzt wirkten sie völlig offensichtlich. Gewiss würde eine so attraktive junge Frau wie Lilian nicht zulassen, dass
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