Handbuch für anständige Mädchen
den Schultern. »Ich habe mich noch nicht für den einen oder anderen entschieden.«
»Sie könnten mich heiraten.«
Doch Lilian sah nur lächelnd aus dem Fenster.
In ihrem Streben nach Lilians Aufmerksamkeit hatte sich eine Kluft zwischen dem Arzt und dem Friedensrichter aufgetan. Dr. Mossly und Mr Vine schlenderten abends nicht mehr gemeinsam über den Maidan- Park. Sie waren keine Whist-Partner mehr bei Mrs Birchwoode. Sie statteten einander keine Besuche mehr ab, um auf den Verandas ihrer Bungalows zu rauchen und zu plaudern. Mr Vine betrachtete Dr. Mosslys Aufmerksamkeit, was Lilians Gesundheit betraf, als lästig und unnötig. Dr. Mossly empfand Mr Vines Sorge um Lilians finanziellen und legalen Status als aufdringlich und penetrant. Sie beäugten einander mit aufgebrachtem Misstrauen und überwachten genau, ob Lilian einen von ihnen bevorzugte.
Und dennoch waren sie bei zahlreichen Themen, auch ohne es zu wissen, derselben Meinung: an erster Stelle Lilians Freundschaft mit Mr Hunter und ihre wachsende Vorliebe für alles Indische. Ja, bald war weithin bekannt, dass die Witwe Fraser in der Abgeschiedenheit ihres eigenen Zuhauses einheimische Kleidung trug. Mrs Frasers dhobi hatte dem dhobi von Mrs Birchwoode ebendies berichtet, hatte ihm die Saris und Pyjamahosen gezeigt, die er zum Waschen bringen sollte. Letztlich hatten sich Mrs Birchwoode, Mrs Toomey und Mrs Ravelston gezwungen gesehen, Lilian einen unangemeldeten Besuch abzustatten. Sie hatten sie, wie man sich erzählte, in den lose sitzenden, wallenden Stoffen des Basars angetroffen, die Füße bloß, die Haare offen. Noch schockierender war der Umstand, dass sie noch nicht einmal Schwarz trug, sondern eine leuchtende Mischung aus Grün und Türkis (sie hätten es nie zugegeben, aber die Farben passten perfekt zu Lilians sonnengebleichten Haaren und ihrer hellbraunen Haut). Sie roch unverkennbar nach Tabak, und die hookah, die der abwesende Mr Gilmour so geschätzt hatte, war ganz offensichtlich in letzter Zeit benutzt worden.
»Glauben Sie tatsächlich, dass sie die raucht?«, fragte sich Mrs Ravelston.
»Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln«, sagte Mrs Birchwoode.
»Vielleicht hat jemand anders …«, setzte Miss Forbes an, die Captain Forbes’ Schwester war und von daher geneigt, Lilians Fall wohlwollend zu betrachten.
»Wer denn? Mr Hunter vielleicht? Er könnte es durchaus gewesen sein. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass sie seine Aufmerksamkeiten zulässt, und wir alle wissen ja, welche Art Mann er ist.«
»Welche Art Mann ist er denn?«, fragte Miss Forbes, die Mr Hunter über den maidan reiten gesehen und seine körperlichen Attribute mit Interesse wahrgenommen hatte.
»Oh, er ist ein ziemlich furchtbarer Knabe«, sagte Mrs Toomey. »Er durchstreift die Ebenen und Berge nach Unkraut und Samen. Er trägt ein Messer im Gürtel und schläft in einem Zelt.«
»Er kaut Betel«, fügte Mrs Ravelston hinzu.
»Und wandert über den Basar, gekleidet wie ein badmash «, sagte Mrs Birchwoode.
»O ja. Und was das Tanzen betrifft«, sagte Mrs Toomey, »so bin ich von den Knien abwärts mit blauen Flecken übersät gewesen, als er mit mir fertig war. Und es war bloß die Polka!«
»Und Mrs Fraser sieht ihn recht häufig?«
»O ja. Sie kennen einander natürlich schon aus der Heimat, aber er besucht sie, so oft er will. Auch abends, wie ich höre.«
»Das gibt es doch nicht!«, sagte Mrs Ravelston. »Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein, aber seien Sie versichert, dass er es tut.«
Es dauerte nicht lange, bis die Gerüchte Mr Vine und Dr. Mossly zu Ohren kamen. Offensichtlich, entschieden sie (unabhängig voneinander), war es von größter Wichtigkeit, dass Mrs Fraser einen Ehemann fand, und zwar schnell.
»Es ist schwierig für eine alleinstehende Frau, selbst wenn es sich um eine verwitwete Dame wie Sie handelt, keinerlei Verleumdung oder Spekulationen auf sich zu ziehen«, sagte Mr Vine. Er betrachtete billigend Lilians gestärktes schwarzes Kleid und presste seine dünnen Finger zusammen, als widerstehe er dem Drang, die Hand auszustrecken und sie zu berühren. »Und als relativer Neuankömmling in unserer bescheidenen Station im Landesinnern sind Sie vielleicht in der Tat neugierig, was die Eingeborenen betrifft, ja gar belustigt über ihren Glauben, ihre Art sich zu kleiden, ihre Bräuche. Auf die gleiche Art und Weise, wie man neugierig und belustigt ist, sagen wir mal, von den Tieren in zoologischen Gärten oder den
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