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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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ein derart unsauberer und haariger Mensch wie der Friedensrichter sie hofierte, selbst wenn er ihr anbot, ihr die einheimischen Feste zu zeigen? Hinter seinem Taschentuch blinzelte er traurig in ihre Richtung.
    »Da wäre auch noch das Thema Mr Hunter«, sagte er. »Sie kennen den Burschen gut?«
    »Er meint, er wüsste vielleicht jemanden in Kew, der daran interessiert wäre, meine Bilder zu kaufen«, sagte Lilian.
    »Ach ja.« Mr Vine seufzte und betrachtete die zahlreichen zusammengerollten Aquarelle, die in losen Pyramiden überall im Salon aufgestapelt waren.
    »Die Sache ist die«, unterbrach ihn Dr. Mossly. »Mr Hunter ist ein Mann mit zweifelhaftem Umgang. Ein Mann, dessen Loyalität gegenüber der Company und ihrer Rolle hier fragwürdig ist. Viele von uns fürchten, dass er in der Tat zu den Eingeborenen übergelaufen ist. Es könnte für Sie von Nachteil sein, mit ihm in Verbindung gebracht zu werden.«
    Lilian ließ sich in einem Lehnsessel nieder. Es war Selwyns Lieblingssessel gewesen. Ja, es war genau der Sessel gewesen, in dem er gesessen hatte, als die Insekten durch das offene Fenster hereingeströmt waren. Doch jetzt war es ihr Sessel. Sie musste sich die Bitten keines dieser beiden langweiligen Männer anhören, wenn sie nicht wollte. Sie musste niemanden wegen irgendetwas um Erlaubnis fragen. Außerdem gehörte nun, da Selwyn tot war, das Geld, das ihr Vater ihm anlässlich ihrer Eheschließung geschenkt hatte, ihr – und das Ganze verhielt sich somit genau so, wie es von Anfang an hätte sein sollen.
    »Der Bursche ist auch ausgesprochen ungläubig«, sagte Mr Vine. »Ich jedenfalls habe ihn noch nie in der Kirche gesehen.« Er blickte Dr. Mossly an, um diesen Umstand bestätigt zu bekommen. Dr. Mossly nickte zustimmend, wobei seine Wangen wie Aspik gegen seinen Kragen wabbelten.
    Lilian sagte nichts. Die Angelegenheit überließ man doch sicherlich am besten dem Gewissen des Einzelnen, dachte sie, vorausgesetzt, Mr Hunter besaß so etwas. Mr Vines Stimme brummte in ihren Ohren und vermischte sich mit dem Geräusch von Bienen, die vor ihren Fenstern über den Geranien hin und her summten. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Der Einheimische, den sie angeheuert hatte, damit er ihr das Sitarspielen beibrachte, würde in weniger als einer halben Stunde eintreffen. Neben der Uhr lag eine Nachricht von Mr Hunter. Darin stand, dass er im Laufe des Nachmittags mit dem Brahmanen vorbeikäme, um ihr in Sanskrit zu helfen, da sie allein keine Fortschritte zu erzielen schien. Die Nachricht endete mit zärtlichen Worten, die Mr Vine die Sprache verschlagen und Dr. Mossly dazu gebracht hätten, nach seinem allergrößten Taschentuch zu suchen.
    Lilian schloss die Augen. War es an der Zeit, Mr Hunter weitere Intimitäten zu gestatten? Sie konnte sich nicht entscheiden. Sollte sie ihn heiraten? Noch nicht. Vielleicht nie … Plötzlich fiel Lilian auf, dass in dem Zimmer Schweigen herrschte. Sie schlug die Augen auf. Dr. Mossly und Mr Vine starrten sie so begierig an, dass die Männer sie an zwei Pariahunde erinnerten, einen dicken und einen dünnen, die angesichts einer potenziellen Mahlzeit zu geifern anfingen.
     
    Lilian graute vor der Fahrt zu den kalee-ghat- Badestufen. Die Aussicht, in einer Kutsche mit dem Friedensrichter eingeschlossen zu sein, der sich stundenlang über die Notwendigkeit auslassen würde, wie man die örtlichen Bewässerungsanlagen zu verbessern habe, oder über den schrecklichen Mangel an Eisgruben zur Herstellung dieses überaus wichtigen Luxusguts oder die Vorzüge der industriellen Herstellung von Opium für den Export oder der Notwendigkeit, mehr Ventilatoren im Gerichtssaal zu installieren (um nur ein paar seiner liebsten Gesprächsthemen zu nennen), reichte beinahe aus, um sie von dem Ausflug abzubringen.
    Doch ihre Neugier gewann die Oberhand, und als Mr Vine in einer Kutsche vorfuhr, um sie abzuholen, erwartete sie ihn bereits.
    Ihre Fahrt durch die europäische Siedlung in die Eingeborenenstadt verlief ereignislos. Doch als sie sich dem Tempel näherten, wurde die Straße immer belebter und es wimmelte von Menschen, sodass es bald beinahe unmöglich war, schneller als im Schneckentempo zu fahren. Lilian starrte durch das Fenster auf die wogende Masse, während sie und der Friedensrichter sich in der drückend heißen Kutsche zentimeterweise vorwärtsbewegten. Die Menschenmenge war sichtlich aufgeregt, zu allen Seiten riefen und sangen und

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