Handbuch für anständige Mädchen
Diese niedrigere Stange wurde nun von einer Männergruppe ständig im Kreis gedreht. Sie rannten immer schneller, wie Pferde in einer Mühle, bis der hängende Mann durch die Luft flog, in einem Kreis mit einem Durchmesser von etwa neun Metern, wie eine Stoffpuppe am Ende des Seilstranges aufgehängt. In einer Hand hielt er eine Tasche, aus der er der schreienden Meute unter sich Blumen und Bonbons zuwarf.
»Um Himmels willen!«, rief Lilian, die sich die Hände vor den Mund schlug. »Er wird doch gewiss herunterfallen.« Sie besah sich das Spektakel, das vor ihren Augen ablief, genau. »Wie in aller Welt ist er festgemacht?« Da wurde es ihr mit einem Mal klar. Der Körper des Mannes wurde von acht Eisenhaken gehalten – von denen vier durch das Fleisch an seinem Rücken gingen, und vier durch das Fleisch an seiner Brust. Er wurde einzig und allein von diesen Haken gehalten, während er im Kreis durch die Luft wirbelte. Blut strömte aus seinen Wunden und spritzte auf die emporgerichteten Gesichter der Menschen unter ihm, die schrien und sich um den unteren Teil des Pfahls drängten, gerade eben noch zurückgehalten von der Miliz, die vor jeder Schaukel postiert war, um der Menge Einhalt zu gebieten.
»Wie schrecklich!«, rief sie.
»Bitte, gestatten Sie mir, Ihnen behilflich zu sein«, rief Mr Vine. Er verließ seine Ecke der Kutsche und befand sich im Nu neben ihr. »Ich habe ein paar Salze bei mir. Der Anblick ist in der Tat recht schockierend und abstoßend, besonders für eine Dame und überdies eine, die noch so neu in Indien ist wie Sie.«
Doch Lilian hörte ihm nicht zu. Mittlerweile hingen drei Männer von den drei Schaukelpfählen. Sie starrte sie ungläubig an und auf die Leute, die verzückt unter ihnen riefen und schrien und tanzten. »Wie ekelhaft, und dennoch, wie faszinierend«, murmelte sie. »Ich gehe davon aus, dass die schaukelnden Männer reichlich bhang und Opium verabreicht bekommen, bevor sie anfangen? Dieser Bursche hier ist ja wirklich geradezu irr.«
Der Friedensrichter blickte überrascht drein. »Ja, dem ist wohl so. Dr. Mossly hat sich einmal um einen von ihnen gekümmert, obgleich sie sich gewöhnlich selbst versorgen. Der Mann war im Delirium, auch wenn sich unmöglich sagen ließ, ob das an den Schmerzen lag oder an den Stimulanzien, die er eingenommen hatte. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.«
»Und wie lange werden sie so schaukeln?«
»Ach, etwa eine halbe Stunde.«
»Und handelt es sich hierbei um Buße?«
»Für ihre eigenen Sünden, oder manchmal für die anderer. Reichere Männer zahlen natürlich für die Dienste dieser Knaben und entledigen sich ihrer Sünden mithilfe eines Stellvertreters. So ist es schon immer gewesen.«
Lilian schenkte dem Friedensrichter ein Lächeln. »Sie sind ausgezeichnet informiert, Mr Vine.«
»Ich habe es viele Male mit angesehen.« Er starrte düster auf das Spektakel hinaus. »Man lernt derlei Dinge, ob man nun will oder nicht. Anfangs ist es noch recht interessant. Wenigstens glaube ich mich entsinnen zu können, dass ich fasziniert gewesen bin. Aber jetzt? Jetzt bin ich lange genug hier gewesen um zu wissen, dass wir die überlegene Zivilisation sind.« Er deutete auf die schreiende Menge. »Welche andere Schlussfolgerung könnte es wohl geben?«
»Mr Vine«, sagte Lilian sanft. »Danke, dass Sie mir das hier gezeigt haben. Aber es ist ein höchst drastisches und groteskes Schauspiel. Ich finde, wir sollten jetzt vielleicht umkehren.«
»Selbstverständlich«, sagte Mr Vine rasch. »Es ist sehr, sehr unerfreulich, und ich bin froh, dass Sie mir da zustimmen. Aber wissen Sie, Mrs Fraser, Sie haben so wenig von dem Ort gesehen, trotz Ihrer … Ausflüge auf Captain Forbes’ Pferd und Ihrer Basarbesuche. Ich dachte, es könnte nützlich sein, wenn Sie ein paar seiner … weniger reizvollen Sehenswürdigkeiten zu Gesicht bekämen. Sie begreifen doch gewiss, dass ich Sie zum einen zu erzieherischen Zwecken hierhergebracht habe und zum anderen, tja … um Sie von den Vorzügen zu überzeugen, Europäerin zu sein.«
1
Alice beobachtete, wie Verzweiflung, Überraschung, Ungläubigkeit, Freude und Argwohn nacheinander über das Gesicht des Fotografen huschten.
»Heirat?«, sagte er. »Ich bin keine sonderlich gute Partie.«
»Da wäre Mrs Cattermole gewiss anderer Ansicht.«
»Sie ist eine Teufelin«, murmelte Mr Blake. »Sie will mich nicht heiraten. Sie will sich bloß ihren eigenen Genuss verschaffen.«
»Tja, Sie
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