Handbuch für anständige Mädchen
lachten Stimmen. Schrille Musik erfüllte die Luft, und Lilian erhaschte einen Hauch von ghee und Zwiebeln in der Brise. Alle trugen ihr farbenprächtigstes Gewand – abgesehen von Lilian, die, um Mr Vine nicht aus der Fassung zu bringen, ihr schwarzes Kleid anhatte, und Mr Vine selbst, der ohnehin Schwarz zu tragen pflegte. Alle hielten auf den Tempel zu.
»Um welches Fest, sagten Sie, handelt es sich gleich noch?«, fragte Lilian, die eine Gruppe Bettelmönche betrachtete, deren Körper von Kopf bis Fuß mit Asche beschmiert waren, die Haare schlammverkrustet und um ihre Köpfe gewunden. Abgesehen von Stofffetzen, die ihnen von der Taille hingen, waren sie nackt. Einer hielt die Arme über den Kopf. Anscheinend hatte er sie so viele Jahre in der Position gehabt, dass sie jetzt verkümmert und völlig unbeweglich waren. Die Nägel seiner geballten Fäuste hatten die Rücken seiner Hände durchbohrt und waren auf der anderen Seite wie Klauen herausgewachsen.
»Wir fahren zum churuk pooja «, erwiderte der Friedensrichter. »Das An-Haken-Hängen.«
»Sehen Sie sich das an!«, rief Lilian und wies auf den Fakir mit den verkümmerten Armen. »Wie schrecklich!«
»Ja«, sagte der Friedensrichter.
»Ist es eine Art Buße?«
»Ich glaube, es soll einen Schwur oder dergleichen an Vishnu erfüllen.« Mr Vine seufzte. »Es ist ein überaus verdienstvoller Akt, so heftige Schmerzen zu ertragen. Dr. Mossly hat mir versichert, dass die Arme recht schnell taub werden und sich die Schmerzen folglich bald legen. Manche dieser Knaben halten bloß einen Arm hoch. Dieser Kerl, der beide Arme hochhält, gilt bestimmt als besonders heilig, da er beinahe vollständig auf andere angewiesen ist, was Nahrung und Hilfe jeglicher Art betrifft.«
»Du meine Güte«, sagte Lilian. Ihr war ein wenig übel.
»Ist Ihnen unwohl, Mrs Fraser?«, fragte Mr Vine, der sich eifrig vorbeugte. »Hier, nehmen Sie mein Taschentuch.« Er tätschelte ihre Hand. »Ja, die Bettelmönche können recht scheußlich sein. Aber Sie werden ähnliche Burschen auf dem Basar gesehen haben. Nicht ganz so ansprechend aus der Nähe, was?«
»Nein«, stimmte Lilian ihm zu und fächerte sich mit dem Taschentuch des Friedensrichters Luft ins Gesicht. »Es ist zweifellos ein sehr eigenartiger Brauch.«
Schweigend starrte Mr Vine aus dem Fenster. »Ich bin jetzt seit fünfunddreißig Jahren aus der Heimat fort«, sagte er nach einer Weile. »In Kushpur habe ich zehn dieser Jahre verbracht und mir das churuk pooja jedes Jahr angesehen. In einem Jahr hat es einige Tote gegeben – ein Knabe hat sich gelöst … es gab einen Massenansturm … der Stand eines bhaji- Verkäufers wurde in Brand gesteckt … wir wollten versuchen, die Veranstaltung zu unterbinden, natürlich um dafür zu sorgen, dass sich solche Unglücksfälle nicht mehr ereigneten. Die Brahmanen stimmten zu und nickten und grüßten mit einem Salam, doch dann im Jahr darauf fand das Ganze wie gewöhnlich statt.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben uns nicht die Mühe gemacht, es noch einmal anzusprechen. Jetzt schicken wir bloß die Garnison her, um sicherzustellen, dass es keinen Ärger gibt.« Er beugte sich vor, und Lilian fiel auf, dass er sie gespannt ansah. »Aber dies ist eine Seite Indiens, Mrs Fraser, die Sie in Ihrem Salon mit Mrs Birchwoode gewöhnlich nicht zu Gesicht bekommen, nicht wahr?«, sagte er. »Vielleicht ist es eine Seite, die Sie nicht sehen wollen. Sie werden ganz bestimmt feststellen, dass das churuk pooja den Unterschied zwischen uns und den Indern höchst überzeugend veranschaulicht.«
Lilian nickte. Deshalb hatte er sie also hergebracht. Sie hätte es wissen müssen.
Mr Vine musterte die Menge, die sich mittlerweile zu beiden Seiten der Kutsche so weit zu erstrecken schien, wie das Auge reichte. »Vielleicht ist dies doch keine so gute Idee gewesen«, murmelte er.
Doch Lilian beugte sich vor und deutete aus dem Fenster. Drei hohe Pfähle, jeder am oberen Ende von einer langen horizontalen Bambusstange gekreuzt, ragten aus der Menge. »Was sind das für Dinger?«, fragte sie.
»Das? Das sind die Hängepfähle. Deswegen sind heute alle hier. Sehen Sie, da kommt gerade einer an die Reihe …«
Und tatsächlich beobachtete Lilian, wie sich ein Mann aus der Menge löste. Er war mithilfe eines Seiles an das Ende der horizontalen Bambusstange befestigt, an deren anderem Ende ein anderes Seil zu einer horizontalen Stange führte, die auf Hüfthöhe von dem Pfahl wegstand.
Weitere Kostenlose Bücher