Handbuch für anständige Mädchen
angesichts solcher Fehleinschätzung geschwiegen? Doch dann war der Moment vorbei, und Mr Vine merkte an, dass in ein paar Monaten ein Ball in der Residency stattfände, und freuten sich die Damen nicht darauf, und hatten sie neue Seidenstoffe aus Kalkutta bestellt, damit der dharzi Kleider und Schärpen daraus schneidern konnte? Die Gesichter der Damen erstrahlten. Es waren neue Damen anwesend. Als Mitglieder der »Fangflotte«, derjenigen Frauen, die auf der Suche nach einem Gemahl aus England hergeschickt worden waren, kannten sie die neueste Mode zu Hause und hatten ihren memsahib -Schwestern im Landesinnern viel zu dem Thema mitzuteilen. Und selbstverständlich, äußerte Captain Wheeler gegenüber Mr Birchwoode in schroffer und männlicher Manier, würde die Saison für die Wildschweinjagd bald wieder anbrechen …
Eine Servierplatte nach der anderen wurde hereingebracht und auf den Tisch gestellt. Suppenterrinen, warmes Brot und frisch hergestellte Butter, glänzende Geflügelbraten, zwei gewaltige Hammelpies, zwei ganze Lammbraten, haufenweise Gemüse und Berge von Kartoffeln, die buttrig glänzten, gefolgt von lockerem Reisbrei und Obsttorten mit einer glänzenden Sirupglasur, Schüsseln voll saftiger Mangos mit Sahne und Melonen-Weincreme und einer Fülle an Burgunder und rotem Bordeaux.
»Also, Miss Bell, was gibt es Neues aus der Heimat zu berichten?«, sagte Mrs Birchwoode, die diskret hinter ihrer Serviette rülpste, während sie ein gewaltiges Stück Hammelpie in Angriff nahm. Miss Bell war eine angeheiratete Cousine von Mrs Ravelstons Schwester. Sie war erst vor Kurzem in Kushpur eingetroffen und sollte bis zum Ende der kalten Jahreszeit bleiben.
Miss Bell lächelte nervös, als sei sie sich nicht sicher, was von ihr erwartet wurde. »Ach, nicht viel.«
»Kommen Sie schon, es muss doch etwas geben, das Sie uns berichten können. Letztes Jahr brachte Miss Stanford Kunde von der Käfig-Krinoline. Als welch ein Segen sich dieses Wäschestück herausgestellt hat! Ich jedenfalls war überaus erleichtert, ohne so viele schwere Unterröcke auszukommen, und der alte Rosshaarreifrock gehört definitiv der Vergangenheit an. Also sagen Sie uns, Miss Bell, sind die Röcke weit oder schmal? Sind die Taillen hoch oder tief? Sind Schultern bedeckt oder nicht? Ja, welche neuen und schockierenden Modeerscheinungen haben Sie in der Heimat zu Gesicht bekommen?«
»Nun, da Sie mich fragen« – Miss Bell beugte sich vor –, »man hat manche Frauen in London gesehen, die« – sie senkte die Stimme – »Hosenröcke tragen.«
»Du lieber Himmel!«
»Eine amerikanische Mode, wie ich glaube.«
»In der Tat. Und er findet Anklang, dieser ›Hosenrock‹?«
»O nein. Er gilt als ziemlich unerhört.«
»Und haben Sie einen mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein. Aber ich kenne eine Dame, deren Schwester ein Dienstmädchen hat, das einen gesehen hat. Und da war ein Bild im Englishwomen’s Domestic Magazine …«
»Ha!«, rief Mr Birchwoode, der das Gespräch verfolgt hatte. »Hosenröcke? Wer hat denn so was schon gehört. Als Nächstes werden Sie Damen noch rauchen und Hosen tragen und verlangen, Anwälte und Ärzte und Politiker zu werden!« Er grinste Miss Bell an. »Sagen Sie mal, haben Sie Frauen mit Stumpen zwischen den Zähnen gesehen? Darauf gehe ich jede Wette ein.«
Miss Bell blickte auf ihren Teller, da ihr beim besten Willen keine passende Antwort einfiel.
»Es gibt bereits einen weiblichen Arzt«, sagte Mr Toomey. Er zwinkerte Miss Bell zu. »Was sagen Sie dazu, Dr. Mossly? Sind Sie bereit, am Krankenbett einer Dame Platz zu machen?«
»Es wird nichts weiter daraus werden«, sagte Dr. Mossly. »Ich habe mir sagen lassen, dieser weibliche Arzt – vielleicht sollte man sie als ›Doktorine‹ oder ›Doktrice‹ bezeichnen – sei eine amerikanische Dame. Wie ihre schamlosen Moden mögen derlei Dinge schockieren und Empörung hervorrufen, aber sie setzen sich nicht durch.«
»Aber Frauen könnten es vorziehen, von jemandem ihres eigenen Geschlechts versorgt zu werden«, sagte Lilian, die froh war, dass ihr neuer Status als Witwe ihr eine gewisse Redefreiheit gewährte. Als verheiratete Frau war von ihr erwartet worden, dass sie sich der Meinung ihres Gatten fügte, als unverheiratete Frau war von ihr erwartet worden, dass sie keinerlei hörenswerte Meinung hatte. Jetzt konnte sie fast alles sagen, was sie wollte. »Ihr Schamgefühl hindert viele daran, sich von einem männlichen Arzt behandeln zu
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