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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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eine Muschel unter seinen Händen geöffnet und das weiche Fleisch seinen Blicken preisgegeben. Anschließend hatte er sich gefragt, ob sie die ursprünglichen Knöpfe durch kleinere ersetzt hatte, so leicht waren sie durch die Schlaufen geglitten.
    »Mrs Cattermole …«
    »Früher haben Sie mich Eliza genannt.«
    »Sie sollten zu Ihrem Gatten zurückgehen.«
    Einen Augenblick lang glaubte er, sie werde ihn ohrfeigen. Sie trat einen Schritt vor, und er stieß beim Zurückweichen gegen den Waschtisch. Sie beobachtete ihn, wie ein Eisvogel einen Fisch in einem Teich beobachten mochte, wenn er auf den rechten Moment wartete, um ihn aufzuspießen und in einem Stück hinunterzuschlingen.
    »Mein lieber Mr Blake, Sie haben doch gewiss keine Angst vor mir?« Sie kam näher, sodass ihre Röcke sich gegen seine Beine pressten wie der Druck der hereinkommenden Flut.
    Mr Blake spürte eine Hand, die an den Knöpfen seiner Breeches zerrte.
    »Kommen Sie schon«, sagte Mrs Cattermole energisch. »Es besteht kein Grund zur Schüchternheit.«
    Mr Blake befreite sich aus dem tückischen Sog ihrer bauschenden Röcke. »Mrs Cattermole!«, rief er und stürzte sich in die Arme des ausgestopften Grizzlybären, der neben dem Waschtisch stand. »Eliza. Bitte. Denken Sie doch an Ihren Gatten.«
    Mrs Cattermole brach in Tränen aus. Insgeheim stöhnte Mr Blake auf. Keine Tränen, bloß keine Tränen. Mit Wut wurde er fertig, aber bei Tränen bestand immer die Gefahr, dass er nachgab. Er wappnete sich und tätschelte ihr die Schulter auf, wie er hoffte, kameradschaftliche Art. »Kommen Sie schon«, wiederholte er und reichte ihr sein Taschentuch.
    »Ich bin ruiniert«, schluchzte sie. »Sie sind mich leid? Sie haben genug von mir?« Sie schleuderte ihm das Taschentuch entgegen.
    Mr Blake sagte nichts. Er ahnte, dass sie eventuell gleich aus dem Zimmer stürmen würde, und sagte sich, dass tiefes Schweigen seinerseits die Wahrscheinlichkeit dessen erhöhen könnte. Er starrte zu Boden und zählte die Sekunden.
    »Ich trage Ihr Kind unter dem Herzen, und Sie sagen mir, ich solle zu meinem Gatten zurückkehren!«, rief Mrs Cattermole, die Stimme lauter denn je. »Wie können Sie nur?« Sie griff erneut nach seinem Taschentuch und vergrub das Gesicht darin.
    Mr Blake hatte das Gefühl, in einen Abgrund zu fallen.
    »Ich bin hergekommen, um Ihnen dies mitzuteilen«, sagte sie, »damit Sie Ihre Verpflichtungen erfüllen und um Sie davor zu warnen, zu eng mit Miss Talbot zusammenzuarbeiten – ach! Wie ich sehe, habe ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit! Dann fühlen Sie sich also tatsächlich von ihr angezogen?« Ihre Stimme erhob sich zu einem Kreischen. »Sie können mich doch nicht zurückweisen wegen einer … einer Laune der Natur wie Alice Talbot? Ja, sie, sie … tja, lassen Sie sich gesagt sein, Mr Blake, diese Frau … diese Frau gehört in einen Zirkus. O ja! Oder in ein Museum des Grotesken .«
    Mr Blake war schwindelig, entweder von dem Portwein, den er nach dem Abendessen getrunken hatte, oder dem Äther, den er davor zu sich genommen hatte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er wollte ihr sagen, dass sie sich irrte, dass Alice Talbot freimütig, intelligent und mutig war und, wie er einräumen musste, den besten Blick für Komposition hatte, dem er je begegnet war. Doch er tat es nicht. Er sagte gar nichts. Stattdessen schloss er den Mund und gestattete Mrs Cattermole, mit ihrer Schmährede fortzufahren.
    »Haben Sie gewusst, dass sie weder Mann noch Frau ist? Haben Sie gewusst, dass ihr Vater sie als Teil seiner Sammlung hierbehält, nicht einfach nur als Haushälterin? O ja! Mein Mann weiß dank Mr Talbot genauestens über sie Bescheid, und er hat mir alles erzählt. Obgleich ich an Ihrem Gesicht ablesen kann, dass sie es versäumt hat, Ihnen etwas zu erzählen. Sie täten gut daran, zu Ihren medizinischen Büchern zurückzukehren, Mr Blake. Schlagen Sie das Wort ›Hermaphrodit‹ nach und schauen Sie einmal, was dort geschrieben steht.«

2
    Alice stieg aus den schwülen Höhen des Treibhauses herab. Heirat? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Welch Rettung wäre es schon, statt der Kuratorin ihres Vaters die Gattin von Mr Blake zu sein? Sie befände sich immer noch in hoffnungsloser Abhängigkeit von einem Mann, was sämtliche materiellen Bedürfnisse anging. In ihrer Tasche ertastete sie mit den Fingern die zerknitterten Ränder von Lilians Brief. Komm her, Alice. Komm bald, wenn möglich. Aber würde Mr Blake tatsächlich

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