Handbuch für anständige Mädchen
vertrauen.«
»Der Bemerkung stimme ich voll und ganz zu«, sagte Alice.
»Dann grölte er etwas, bei dem es sich wohl um ein Lied aus dem Variété handeln muss, etwas darüber, vom Zauber einer schönen, jungen Dame getäuscht worden zu sein.«
»Alice ist hier, Mr Blake!«, rief Mrs Talbot die Ältere, als sei der Fotograf taub und nicht geistig umnachtet. »Jetzt können Sie mit ihr sprechen.«
Mr Blake hatte Alice nicht aus den Augen gelassen. »Sie«, brachte er krächzend hervor. »Sie hat mir alles über Sie erzählt. Stimmt es?« Er setzte eine verschlagene Miene auf. »Ist das Ihr Geheimnis?«
»Welches Geheimnis?«, plärrte Tante Lambert. »Was meinen Sie nur, Mr Blake?«
»Seine Nerven sind zerrüttet«, flüsterte Tante Statham. »Reißen Sie sich doch zusammen, Mr Blake!«, rief sie. »Ist Ihnen denn nicht klar, wo Sie sich befinden?« Sie griff nach der Kerze und hielt sie empor, sodass die Schatten wie Dämonen umhersprangen und flackerten.
Doch die schwankende Kerze und tanzenden Schatten schienen ihn nur noch mehr aufzuwühlen. »Sie kommt mich holen!«, rief er. »Löschen Sie die Lichter! Schnell jetzt, dann sieht sie uns vielleicht nicht.« Er schlug mit einem Kissenbezug nach der Kerze. Alice konnte gerade noch verhindern, dass sie aus Tante Stathams zitternder Hand in das warme Bettzeug fiel. Das heiße Wachs spritzte auf Mr Blakes nackten Oberschenkel, und er stieß einen Schrei aus. »Es ist zu spät«, kreischte er. »Zu spät! Ich kann ihre Lippen spüren.«
»Er wird noch das ganze Haus niederbrennen«, sagte Tante Lambert. »Wir müssen ihn hier heraus und ins Bett bringen.«
»Holt Edwin!«, rief Mrs Talbot die Ältere. »Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Nein«, sagte Alice. Sie beugte sich vor. »Mr Blake«, flüsterte sie. »Mr Blake.«
Der Fotograf guckte sie ängstlich an, und mit einem Mal wurde Alice bewusst, wie sie aussehen musste – das Gesicht mit Erde und Schweiß verschmutzt, die Haare durcheinander, das Kleid fleckig. »Ich sehe zum Fürchten aus«, sagte sie munter. »Aber was soll’s? Ich habe im Treibhaus gearbeitet.« Sie zog das Laken beiseite und hielt die Kerze empor. Mr Blakes Gesicht war blass und wächsern. Seine Augen waren jetzt geschlossen, der Mund stand offen. Sein Atem ging schwer und flach. »Vielleicht können wir ihn wegschaffen, während er bewusstlos ist.«
»Warum nicht mit meinem Stuhl?«, sagte Tante Rushton-Bell. »Der Rollstuhl. Wenn wir ihn hineinbugsieren, dann könnten wir ihn einfach dorthin schieben, wo immer er hinmuss.«
Und während Mr Talbot im Salon noch seinen Gästen die Wirkungskraft einer seiner neueren Erwerbungen erläuterte (einer Armprothese, die dazu gedacht war, eine Schusswaffe zu halten und abzufeuern), während Dr. Cattermole Mr Talbots Portwein trank und seine Zigarren rauchte und zwinkerte, als sein Gastgeber Mrs Cattermole spielerisch in den üppigen Oberschenkel kniff, während Mrs Cattermole Mr Talbot affektiert anlächelte, angesichts der Armprothese nach Luft schnappte und ihre goldenen Ringellöckchen im Lampenschein schüttelte, rollten zwei Stockwerke über ihnen Mr Talbots Tochter, seine vier betagten Tanten und seine Mutter geräuschlos den nackten, betäubten Mr Blake den schwach erleuchteten Flur entlang zur Tür seines Schlafgemachs.
»Es ist schon Jahre her, dass ich die Räumlichkeiten eines Gentlemans betreten habe, bei dem es sich nicht um meinen Gatten handelte«, flüsterte Tante Statham aufgeregt. Sie stieß ein mädchenhaftes Kichern aus. »Noch dazu ungeladen. Was muss wohl Mr Blake denken?«
»Glücklicherweise denkt er im Moment wohl recht wenig«, fuhr Tante Lambert sie an. »Er steht unter Drogen, nicht wahr, Alice? In der Flasche, die du in dem Bettzeug gefunden hast, ist doch etwas gewesen.«
»Äther. Wir verwenden ihn beim fotografischen Prozess.«
»Er experimentiert mit seinen eigenen Chemikalien? Das würde Edwin dann doch interessieren«, sagte Mrs Talbot die Ältere. »Ihr wisst ja, dass er immer sagt, ein Mann lernt am meisten durch persönliche Experimente. Experiment und Erfahrung führen uns zu Wissen und Verbesserung, das sagt er immer.«
»Wir sollten Mr Blake ins Bett stecken und gehen, bevor er aufwacht«, sagte Alice. Sie rieb sich die Augen, da ihr auf einmal schwindelig war. Mr Blakes Zimmer war von Äthergestank durchdrungen, als habe er sein Bettzeug, seine Möbel, sogar seine Vorhänge damit bespritzt, bevor er nach draußen in den Wäscheschrank
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