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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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einwilligen, um den halben Erdball zu segeln, auf der Suche nach einer Schwester, der er nie begegnet war?
    Die Pflanzenreste nach dem Stutzen wegzuräumen, war eine langweilige Aufgabe, doch Alice brauchte etwas, um ihre Gedanken zu zerstreuen, folglich machte sie sich daran, das abgeschnittene Blätterwerk, das auf dem Treibhausboden lag, aufzusammeln, einen Armvoll nach dem anderen in Juteleinensäcke zu stopfen, die am nächsten Morgen weggeschafft und verbrannt werden sollten. Die Arbeit schien kein Ende nehmen zu wollen, und als sie fertig war, war ihr Kleid mit Blättern bedeckt und mit grünen und braunen Flecken übersät. Ihre Hände und ihr Gesicht waren schmutzig. Ihre Haare hatten sich teilweise gelöst, und es hatten sich Zweige und Grün darin verheddert. Sie war durstig und erschöpft, doch ihre Gedanken schwirrten noch immer durcheinander wie die Blätter, die sie aus den schwindelnden Höhen des Treibhauses in die Tiefe geworfen hatte.
    Alice hielt auf den Dschungelsalon ihrer Tanten zu. Unter einem umgedrehten Blumentopf, der inmitten des Grüns neben Tante Rushton-Bells Whisttisch verborgen war, holte sie eine rechteckige Ledertasche hervor. Sie knöpfte sie auf und zog eine Zigarre ihres Vaters heraus. Ihr bot sich nicht oft die Gelegenheit, Tabak zu rauchen. Die Tanten missbilligten es (»es erinnert mich an deinen Vater«, sagte Tante Lambert mit einem kaum unterdrückten Schaudern), und im Treibhaus kam es nur selten vor, dass sie sich nicht in der Gesellschaft der einen oder anderen Tante befand. Jetzt war sie jedoch allein und brauchte Zeit zum Nachdenken. Nachdem sie das Ende der Zigarre mit einer Gartenschere abgeschnitten hatte, ließ sie sich in Tante Lamberts Sessel sinken und wühlte unter den Kissen nach dem Brandy, den ihre Tante dort verbarg, wie sie wusste. Ein oder zwei Gläschen würden gewiss dabei helfen, ihre Gedanken zu beruhigen. Schließlich kam es nicht jeden Tag vor, dass man einem Mann, den man kaum kannte, einen Heiratsantrag machte. Doch als sich ihre Finger um die vertraute Flasche schlossen, störte Geraschel im Blätterwerk die tropfende Stille. Mit Bedauern ließ Alice die Zigarre just in dem Moment außer Sicht gleiten, als eine Stimme rief: »Alice? Alice! Bist du da?«
    »Ja, Tante.« Alice stopfte die Brandyflasche zurück in ihr Chintzversteck und erhob sich. »Stimmt etwas nicht?«
    »Oh, meine Liebe.« Tante Pendleton kam vorgestolpert, ein zitterndes Gespenst in Spitze, das sich aus dem gärenden Dunkel des Dschungels schälte. Die Kerze, die sie trug, bebte heftig in ihren Händen. »Es geht um Mr Blake. Komm schnell. Er fragt nach dir. Nun ja, eigentlich fragt er nicht wirklich, aber es war ganz bestimmt dein Name, den er erwähnt hat. Ich glaube, er hat den Verstand verloren.«
    »Wo ist er?«
    »Im Wäscheschrank. Im zweiten Stock.«
    Später entsann sich Alice, dass sie gar nicht das Bedürfnis verspürt hatte, diese seltsame Nachricht zu hinterfragen, fest überzeugt, dass es eine rationale Erklärung geben müsse. »Hat er sich eingesperrt?«, erkundigte sie sich auf dem Rückweg durch das Blätterwerk. »Als Vorsichtsmaßnahme. Ich meine, wenn er verrückt geworden ist, wäre Festsetzung wohl die beste Vorgehensweise …«
    »O nein. Die anderen sind bei ihm. Mrs Rushton-Bell. Mrs Talbot die Ältere. Mrs Statham. Mrs Lambert. Sie kümmern sich um ihn. Riechsalz, Lavendelwasser, all so etwas. Sie überlegte, eventuell nach einer Eiercreme schicken zu lassen. Schweres und nahrhaftes Essen hilft selbstverständlich, die aufbrausenden Geister zu mäßigen und zu sedieren.«
    »Ist Mr Blake denn ›aufbrausend‹?«, fragte Alice.
    »Nun, eigentlich nicht. Andererseits möchte ich bezweifeln, dass zu dieser späten Stunde noch jemand in der Küche ist, der uns mit einer Eiercreme versorgen könnte, also ist es vielleicht gut so. Ein Stück von Dr. Cattermoles Bakewell Tart hätte es vielleicht auch getan, aber er hat sie wahrscheinlich restlos aufgegessen. Das tut er für gewöhnlich.«
     
    Der Wäscheschrank im zweiten Stock grenzte an Mr Blakes Zimmer. In den letzten Jahren hatte die Zahl der Dienstboten so stark abgenommen, dass die Wäsche dann aus der Waschküche nach oben gebracht wurde, wenn man sie brauchte oder wenn es jemandem einfiel, sich um die Aufgabe zu kümmern. Folglich wurde der Schrank kaum noch genutzt. Zu früheren, üppigeren Zeiten war er der Hauptverwahrungsort von Laken, Kissen, Kissenbezügen, Decken und Daunendecken für den

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