Handbuch für anständige Mädchen
gesamten Westflügel des Großen Hauses gewesen. Seine fensterlosen Wände wurden, wie eine Gruft, von endlosen Reihen von Regalen gesäumt, auf denen sich ordentlich die schneeweißen Ballen frisch gewaschener Wäsche stapelten. Er grenzte an den Hauptschornstein und war deshalb schier überwältigend warm, egal, wie die Außentemperaturen waren. Jetzt stand die Tür offen. Im Inneren erblickte Alice das Grüppchen ihrer Tanten, deren schwarze Vogelscheuchenschatten vom Licht einer einzigen flackernden Kerze zurückgeworfen wurden.
»Weißt du, ich habe schon früher gesehen, wie Mr Blake in diesen Wandschrank verschwunden ist«, flüsterte Tante Statham vertrauensvoll, als sich Alice zu der Gruppe gesellte. »Ich nahm an, er wolle sich frische Bettwäsche holen. Wenn man darauf warten würde, bis jemand anders einem das Bett frisch bezieht, würde es nie geschehen.«
»Ich habe ihn auch hineingehen sehen«, sagte Tante Lambert. »Auch wenn ich sagen muss, dass ich ihn nie habe herauskommen sehen.«
»Ich auch nicht«, sagte Tante Rushton-Bell. Sie trat beiseite, um Alice durchzulassen. »Da ist er, meine Liebe«, fügte sie hinzu, als könnte Mr Blakes hingestreckter Körper ohne Weiteres für etwas anderes gehalten werden. »Er ist natürlich nackt.«
»Vermutlich die Hitze.« Tante Rushton-Bell fächelte sich Luft mit dem Taschentuch zu, mit dem sie noch vor wenigen Augenblicken in Mr Blakes Richtung gewedelt hatte. »Noch dazu ist es eine trockene Hitze. Höchst entkräftend. Der arme Kerl.«
Alice musterte die liegende Gestalt des Fotografen. Anscheinend hatte Mr Blake die Geistesgegenwart besessen, seine Kleidung ordentlich zusammenzufalten und auf einen Schemel neben der Tür zu legen, bevor er auf eines der mittleren Regale des Wäscheraumes geklettert war. Dort hatte er sich, inmitten der ihn umhüllenden Hügel aus Laken und Decken, ein Nest gebaut. In der Luft lag, wie Alice unverkennbar feststellte, der starke Geruch nach Äther. Eine leere Flasche glitzerte wie ein schlaftrunkenes Auge aus den Wäschefalten zu ihr empor.
»Er hat Glück gehabt, dass er keine Explosion verursacht hat«, murmelte sie mit gedämpfter Stimme. »Was, in aller Welt, hat er sich nur dabei gedacht, eine Kerze und eine Flasche Äther in einen derart abgeschlossenen Raum zu bringen?« In Mr Blakes schlaffer linker Hand bemerkte Alice ein Stoffbündel. Farbe und Muster kamen ihr bekannt vor, und als sie es ihm entzog, stellte sie fest, dass es aus einem ihrer eigenen Taschentücher (die schlecht gestickten Initialen in der Ecke waren Alices eigene widerwillige Handarbeit), einem Wäscheknäuel, das sie hernahmen, um die fotografischen Platten zu polieren, und einem Streifen bestand, der vom Saum eines Damenunterrocks abgerissen zu sein schien. Vorsichtig schnupperte Alice an diesen Stoffen. Als ihr schwindelig wurde, stopfte sie sich das Bündel rasch in die Tasche.
Mr Blake verdrehte die Augen. Er murmelte etwas vor sich hin, als spreche er eine Beschwörungsformel, wiederholte dieselben undeutlichen Worte. Die Tanten beugten sich vor, um besser verstehen zu können, was er sagte.
»Sprechen Sie lauter, Mr Blake!«, rief Mrs Talbot die Ältere, eine Hand über ihr Ohr gewölbt.
Die Lider des Fotografen flatterten auf. »Nein, nein, nein«, stöhnte er. Sein leerer Blick schien sich auf die weißen Gesichter zu richten, die ihn umgaben, und seine Züge verzerrten sich zu einer Miene vollständigen Entsetzens. »Weg!«, schrie er und bäumte sich inmitten des Bettzeugs auf. »Sie wollen Cattermole, nicht mich.« Er schlug heftig um sich, und die Laken und Decken wickelten sich enger als jede Zwangsjacke um seine Arme und Beine. Sein Blick wanderte hin und her, bis er, mit so etwas wie Erleichterung, auf Alice fiel. »Sind Sie es?«, hauchte er und klang kurzzeitig klar. »Gott sei Dank.« Doch dann schien wieder Verwirrung von ihm Besitz zu ergreifen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Wer sind Sie?«, zischte er, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. »Und was ?«
»Im Delirium«, sagte Tante Pendleton. »Aus dem Schrankinnern drangen Schreie, und ich habe die Tür geöffnet und ihn vorgefunden, wie er um sich schlug und herumschrie, als sei der Leibhaftige höchstpersönlich hinter ihm her. Der arme Kerl sah völlig verängstigt aus. Er hat mich direkt angestarrt und nach einem Arzt gerufen. Dann hat er nach dir gerufen und mir gesagt, Dr. Cattermole sei ein Teufel, und man dürfe ihm unter keinen Umständen
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