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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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getaumelt war. Die zänkischen Stimmen ihrer Tanten entschwanden in weiter Ferne, und an ihre Stelle trat das rhythmische Pulsieren des Blutes in ihren Ohren. Der Boden unter Alices Füßen schwankte. Auf einmal war ihr Kopf schwer wie eine Kanonenkugel. Sie schlug die Vorhänge zur Seite und riss ein Fenster auf.
    Die kalte Aprilnacht strömte herein wie ein Schwall eiskalten Wassers. Alice tat ein paar tiefe Atemzüge. Der Himmel draußen war hart und klar, der Mond eine tiefgelbe Kugel. Bloß gut, dass sie die Heizung im Wintergarten hochgedreht hatte, denn der Boden wies eine glitzernde Eisschicht auf. Wie spät der Frost dieses Jahr war. Vielleicht war es an der Zeit, den Pfirsichbaum ins Treibhaus zu schaffen.
    Ein Schuss hallte durch den Park wider, gefolgt von Männerlachen und einer Frauenstimme.
    »Bravo, Cattermole!« Die Stimme ihres Vaters dröhnte durch die reglose Luft und wurde von den stillen Hauswänden zurückgeworfen. »Eine glänzende Erfindung, finden Sie nicht? Ein Segen fürs Militär, wie auch für den unglückseligen Amputierten, der jetzt im noblen Dienst von Königin und Land weiterkämpfen kann, anstatt die Straßen unserer Städte zu verschandeln und Almosen zu erbetteln.«
    Alice spürte eine Hand auf ihrem Arm.
    »Komm mit, meine Liebe«, flüsterte Tante Lambert und führte Alice zur Tür. »Er scheint jetzt zu schlafen. Was auch immer er dir sagen wollte, wird bis zum Morgen warten müssen.«

3
    Am nächsten Morgen erschien Mr Blake nicht zum Frühstück.
    Dr. Cattermole und Mr Talbot hatten den Großteil der Nacht mit diversen männlichen Aktivitäten zugebracht – Schießübungen mit der Amputiertenwaffe auf die Statuen auf der Terrasse, Mr Talbots neu erworbener Säurebatterie mit Stromkreislauf, um die Leitfähigkeit verschiedener Materialien auszutesten, und natürlich der Jagd auf nummerierte Mäuse im Salon. Beide Männer standen erst spät auf. Nach der Aufregung der vergangenen Nacht kamen auch die Tanten nur langsam ins Erdgeschoss. Folglich befand sich Alice am Frühstückstisch lediglich in Mrs Cattermoles Gesellschaft.
    Erst saßen die beiden Frauen schweigend da. Dann setzte Mrs Cattermole an und bedachte Alice mit einem eisigen Blick: »Wie ich höre, haben Sie Mr Blake bei seiner Arbeit hier geholfen.«
    »Ja«, sagte Alice.
    »Er ist ein überaus reizender Mann, finden Sie nicht? Und mit solcher Leidenschaft bei seinem Beruf. Hat er Sie fotografiert?«
    »Nein, das hat er nicht.«
    »Mich hat er viele Male fotografiert. Doch ich habe natürlich schon für zahlreiche bekannte Fotografen Modell gesessen. Ich habe das Gesicht und die Figur, wissen Sie? Das hat nicht jeder. Sie sind vielleicht nicht so sehr mit der natürlichen Lumineszenz ausgestattet, die die Kamera so liebt.«
    »Vielleicht«, sagte Alice.
    »Tja, wir können nicht alle so viel Glück haben. Mein Ehemann hat mir gesagt, ich sei das ideale Sujet – er hat mich in zahlreichen Posen aufgenommen, verschiedene griechische Göttinnen eingeschlossen – Diana, Persephone, Leda.« Sie lächelte. »Ihr Vater besitzt, glaube ich, Skulpturen mancher dieser Gestalten, also werden Sie verstehen, wovon ich spreche.«
    Alice nickte.
    »Selbstverständlich eignet sich der üppigere Bau besser für die klassischen Posen«, fuhr Mrs Cattermole fort. »Sie sind vielleicht ein wenig zu schlank, zu … maskulin – ich weiß ja, dass Sie mir diese Worte verzeihen werden –, um den ästhetischen Sinn eines Fotografen anzusprechen.« Sie starrte Alice hocherhobenen Hauptes an, als erwarte sie, dass Alice erröten oder wenigstens unbehaglich dreinblicken würde. »Doch von Ihren eigenen Fähigkeiten hinter der Kamera und in der Dunkelkammer hält Mr Blake sehr viel. Auch wenn ich nicht einsehe, dass eine Dame ihre Zeit an solch einem drückenden Ort verbringen sollte.«
    »Wenn man eine Fotografie anfertigen möchte, lässt sich die Dunkelkammer nicht vermeiden«, sagte Alice.
    »Dem mag wohl so sein.« Mrs Cattermole atmete tief durch. »Und zweifellos ist Mr Blake derselben Meinung.«
    Alice hörte, wie die liebste deutsche Standuhr ihres Vaters die Sekunden vertickte. Es gab ein dumpfes »Plonk«, als der Minutenzeiger vorrückte. Sie rang nach ein paar höflichen und angemessen banalen Worten, ihr fiel jedoch einfach nichts ein. Ebensowenig gelang es ihr, die Vorstellung von Eliza Cattermole aus ihren Gedanken zu verbannen, wie sie für Dr. Cattermoles Kamera als Diana posierte, lediglich von einer Weinranke und

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