Handbuch für anständige Mädchen
Bemerkungen im Sinne seiner eigenen Bedürfnisse zu interpretieren, und nachdem er Miss Bell und Miss Forbes großzügigerweise als Lilians Schülerinnen angeboten hatte, saß er jetzt in Lilians Salon und starrte wie hypnotisiert das Bild an, das gegenwärtig an ihrer Staffelei befestigt war. Das Sujet war eine rebenartige Pflanze mit gewaltigen Blüten, die sich eng um den Stamm eines gelblichen Baumes gewickelt hatte. Die Rinde hatte sich wie Butter an dem Band der sie umgebenden Kletterpflanze vorbeigedrückt, sodass das Bild Mr Vine äußerst lebhaft an eine besonders opulente Kette von Mrs Birchwoode erinnerte, ein enges, mit karmesinroten Seidenblumen geschmücktes Halsband, das den gelbstichigen Hals seiner Besitzerin auf genau die gleiche Art und Weise einzuengen schien.
»Können Sie die Blumen nicht einfach abschneiden und zum Abmalen mit nach Hause nehmen?«, sagte er. »Ich meine, dann könnten Sie einen Träger hinausschicken. Sie müssten nicht selbst dort draußen herumwandern.«
»Ich male die Flora gern dort, wo ich auf sie stoße«, sagte Lilian. »Man muss ihre Heimat sehen, ihre natürliche Umgebung, ihren gewählten Standort. Wenn das Sujet neben einem Bach wächst, male ich auch den Bach. Wenn es inmitten von Felsen wächst, male ich auch die Felsen. Und ich beziehe stets die umgebende Vegetation mit ein. Was, wenn solche Pflanzen und Blumen eines Tages für immer verschwinden sollten? Wir hätten keine nützlichen Aufzeichnungen von ihnen ohne Bilder wie diese. O nein, Mr Vine, um Ihre Frage simpel zu beantworten, ich muss die Pflanze malen, wo ich sie antreffe. Ich kann Ihnen versichern, dass es so gut wie nutzlos wäre, einen Träger loszuschicken. Gewiss haben Sie dafür Verständnis?«
Mr Vine gab ein niedergeschlagenes Ächzen von sich. Noch bevor sie zu sprechen angehoben hatte, bereute er, die Frage gestellt zu haben. Die Antwort (so energisch ausgedrückt, so selbstbewusst vorgebracht) offenbarte ihm, wie weit Lilian sich im Dickicht eigenständigen Denkens verirrt hatte. Ein derart heimtückisches Dickicht, dass sie sich für immer verlaufen würde, wenn es ihm nicht gelänge, sich einen Weg hindurchzuhacken und sie zu retten. Sie würde wie die böse Hexe aus einem Kindermärchen enden: geächtet, allein, unglücklich und verbittert.
Sein Plan war ganz einfach, und einfache Pläne waren häufig am wirksamsten. Er hoffte, dass Lilians Verpflichtungen Miss Bell und Miss Forbes gegenüber dazu beitragen würden, dass sie zu Hause bliebe (Miss Bell war zweifellos zu nervös veranlagt, um auf der Suche nach dem idealen Sujet durch die Gegend zu wandern). Zusätzlich könnte die Gesellschaft anderer junger Damen Lilian die Freude an Klatsch und Mode ins Gedächtnis rufen (und hier beglückwünschte sich der Friedensrichter zu seiner Erkenntnis, dass Mrs Birchwoode, Mrs Toomey und Mrs Ravelston der ansteckenden, überschäumenden Jugend entbehrten, was das Praktizieren dieser weiblichen Leidenschaften betraf). Außerdem hatte der Friedensrichter nun, mit der Begründung, nachsehen zu wollen, ob die Damen ihren Unterricht genossen, an jedem beliebigen Vormittag einen Vorwand, Lilians Bungalow einen Besuch abzustatten.
Lilian hingegen ärgerte es, die beiden jungen Frauen aufgehalst bekommen zu haben. Zwar musste sowohl Miss Bell als auch Miss Forbes erst noch die moderne und optimistische Haltung ablegen, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, und von daher empfand Lilian ihre Gesellschaft nicht als völlig lästig, doch beide waren kaum mehr als Mädchen und, angestachelt von den älteren memsahibs, zunehmend besessen von den Heiratsreferenzen eines jeden Mannes der Company, eines jeden Offiziers, eines jeden ledigen Europäers, den Lilian kannte. Abgesehen davon fehlten ihnen beim Malen und Zeichnen sowohl die nötige Hingabe als auch das Können.
»Ist es immer so heiß in Kushpur?«, sagte Miss Bell quengelig. Sie fächerte sich mit der Hand Luft ins Gesicht. »Ich bin heute Morgen um fünf Uhr aufgestanden, einfach weil ich gehofft habe, wenigstens ein oder zwei Stunden bei einer Temperatur verbringen zu können, die nicht unerträglich wäre. Mr Vine hat gesagt, das Thermometer im Gerichtssaal habe gestern sechsundachtzig Grad angezeigt.«
»Es wird noch viel heißer werden, das kann ich Ihnen versichern«, sagte Miss Forbes fachkundig.
»Es ist kein Wunder, dass die Eingeborenen ständig schlafen. Sie können unmöglich die Energie für etwas anderes aufbringen. Ich
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