Handbuch für anständige Mädchen
Mühe, ihn davon abzubringen, allerdings so gut wie erfolglos.
Schon bald war Harshad von unschätzbarem Wert. Er begleitete Lilian regelmäßig auf den Basar, ging mit ihr von einem Stand zum nächsten und zeigte ihr die beste Methode, einen angemessenen Preis zu erzielen (sie war beim Feilschen zu zaghaft gewesen). Er erläuterte die Vorzüge bestimmter einheimischer Tränke als Heilmittel gegen alltägliche Gebrechen und brachte sie zum angesehensten hakim auf dem ganzen Basar, damit sie sie selbst ausprobieren konnte. Häufig kam er mit, wenn sie mit ihrer Staffelei und den Farben aus der Kolonie ritt, und wies ihr den Weg zu den besten Standorten blühender Pflanzen oder zeigte ihr, wo das Monsunwasser am längsten verweilte, was einen überaus ansprechenden Effekt auf das umgebende Grün hatte. Als sie darum bat, den Tempel am Totenverbrennungsplatz zu besuchen, brachte er sie dorthin und stellte sie dem Brahmanen vor. Und als sie ihn ersuchte, einen Sitarlehrer anzustellen, fand er auf der Stelle jemanden. Während der Unterrichtsstunde stand Harshad gewöhnlich an der Tür, falls sie etwas brauchte, sein Gesicht der Inbegriff des Elends.
»Harshad«, sagte Lilian eines Tages. »Du siehst gequält aus. Gefällt dir meine Musik nicht?«
»Nein, memsahib «, erwiderte Harshad auf Hindi. »Tut sie nicht. Sie spielen sehr, sehr schlecht. Sie stimmen Ihr Instrument beim Üben nicht, was das Ganze noch schlimmer macht. Immer muss es der Lehrer für Sie stimmen, wenn er kommt. Und selbst wenn er das getan hat, können Sie Ihre Finger nicht bewegen, wie Sie eigentlich sollten. Sie sind zu klein, und die Saiten klingen dumpf und tot, wie eine kranke Wespe, die unter einer Tasse gefangen ist. Und Sie sitzen auch nicht richtig. Alles ist falsch. Wirklich, memsahib, es schmerzt mich, dies zu sagen, aber es ist ganz offensichtlich, dass dieses Instrument, dieses überaus schöne indische Instrument, einfach nichts für Sie ist. Sie sollten es nicht spielen. Vielleicht würde es ein anderes Instrument tun. Vielleicht eine Trommel.«
»Eine Trommel?« Lilian lachte. »Bin ich so schlecht? Ranjeet unterrichtet mich nun schon seit Wochen. Er hat gesagt, ich würde Fortschritte machen.«
»Er geht mit einer Rupie in der Tasche nach Hause. Solange er Ihnen diese Lügen auftischt, wird er weiterhin mit einer Entlohnung nach Hause gehen. Warum sollte er Ihnen sagen, dass Sie nicht gut spielen können? Nur ich, Harshad, Ihr ehrlichster und loyalster Diener, kann Ihnen hierbei die Wahrheit sagen.«
»Ja«, sagte Lilian kleinlaut.
»Verdammt schrecklicher Lärm.«
Abends erzählte Harshad Lilian manchmal von seinen hinduistischen Göttern und Göttinnen. Dass die Senke im Land, in der sich Kushpur befand, von Shivas Fußabdruck herrührte, als er quer durch das Land geschritten war. Dass Ganesh als gewöhnlicher Junge auf die Welt gekommen, aber im Krieg geköpft worden war, woraufhin man seinen Kopf laut den Anweisungen Shivas durch den eines Babyelefanten ersetzt hatte. Lilian wusste bereits vieles aus ihrer Zeit im Haus ihres Vaters, doch es war schön, die Geschichten auf Hindi erzählt zu bekommen, wie es sich gehörte.
»Welch zauberhafte Märchen«, sagte sie eines Abends unüberlegt. »Ich weiß nicht, weshalb alle etwas dagegen einzuwenden haben. Inwiefern können denn solch fantasiereiche Legenden Schaden anrichten?«
Harshad stand auf, entschuldigte sich und verließ das Zimmer. Lilian suchte ihn auf, um ihn um Verzeihung zu bitten. Selbstverständlich seien es keine Märchen, meinte sie nachdrücklich. Es sei gedankenlos und töricht von ihr gewesen, dies gesagt zu haben. Würde er ihre Entschuldigung annehmen?
Harshad ließ sich durch die Gabe von zwei Hühnern besänftigen, die er nach Hause zu seiner Frau mitnehmen durfte.
2
Mr Vine entschied, es sei vielleicht eine gute Idee, wenn Lilian den Neuankömmlingen in Kushpur Zeichenunterricht erteilte.
»Sowohl Miss Bell als auch Miss Forbes haben ein Interesse am Anfertigen von Skizzen bekundet«, sagte er. »Insbesondere Miss Forbes hat Ihre Bilder bei mehreren Gelegenheiten bewundert.«
In Wirklichkeit hatte Miss Bell lediglich ihr eigenes mangelndes Geschick mit dem Bleistift bekundet, ohne dass es in ihrer Absicht gelegen hätte, etwas dagegen zu unternehmen, während sich Miss Forbes in Mr Vines Gegenwart laut gefragt hatte, warum Mrs Fraser überall in ihrem Salon stapelweise Bilder aufbewahrte. Doch Mr Vine hatte sich berufen gefühlt, diese
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