Handbuch für anständige Mädchen
wissend an.
Lilians Tasse klirrte auf ihrem Unterteller.
»Es gibt keinen aufschlussreicheren Ort, um den Charakter eines Mannes kennenzulernen, als am Sterbebett des eigenen Gatten«, sagte Miss Bell erhobenen Hauptes. »Und Ihre zärtliche Fürsorge mit anzusehen, Mrs Fraser, ja, jeder Mann, der Zeuge solch liebevoller Pflege geworden wäre, könnte sich nur in Sie verlieben. Nein, ich habe da eher an Ihren Freund gedacht. An Mr Hunter.« Sie wurde rot wie eine Geranie. »Er ist überaus groß und wohlproportioniert, obgleich die älteren Damen sagen, im Herzen sei er im Grunde ein Wilder. Was wissen Sie von ihm? Ist er verheiratet? Die Damen sagen, er sei es nicht, aber man weiß ja nie …«
»Er ist nicht verheiratet«, sagte Lilian.
»Vielleicht ist er auf der Suche nach einer Ehefrau«, sagte Miss Bell. »Es heißt, er halte sich jetzt schon seit Monaten in Kushpur auf, obwohl er im Grunde hätte abreisen sollen. Ich frage mich, was ihn zurückhält?«
Miss Forbes strich sich über die kastanienbraunen Ringellöckchen. »Tja, ich muss schon sagen, letzte Woche ist er mir gegenüber höchst aufmerksam gewesen. Ich ging gerade mit meinem Bruder und Captain Wheeler spazieren, als Mr Hunter extra herüberkam, um sich mit mir zu unterhalten. Natürlich richtete er die meisten seiner Bemerkungen an meinen Bruder, aber es war nicht zu verkennen. Er nahm doch tatsächlich meine Hand und hieß mich in Kushpur willkommen.« Sie lächelte. »Eine Ehefrau ist ein Trost und ein Segen. Mr Hunter braucht doch wohl gewiss eine.«
»Vielleicht ist er zu wild«, hauchte Miss Bell.
»Ich glaube, Sie kennen ihn aus der Heimat, Mrs Fraser«, sagte Miss Forbes.
»Er ist ein Bekannter meines Vaters gewesen.«
»Und was haben Sie von ihm gesehen oder gehört, das Sie zu der Überzeugung gelangen lässt, er sei kein echter Gentleman?«
»Ach, dies und das.«
»Aber was?« Miss Bell und Miss Forbes saßen auf der Sofakante. Miss Bells blasses Gesicht wurde noch blasser, und Miss Forbes presste die Lippen zusammen. Standen sie kurz davor, einem Skandal auf die Spur zu kommen? Mrs Birchwoode ein Gerücht zu überbringen, das ihr noch nicht zu Ohren gekommen war?
Lilian beobachtete, wie Neugier, List – sogar Eifersucht – über die Gesichter der beiden huschten. Das Verlangen der Mädchen nach Gerüchten, angefacht von den anderen europäischen Damen und verstärkt durch Langeweile, lächelte ihr hungrig von zwei Paar begierigen Lippen entgegen. Lilian versuchte sich zu entsinnen, wie sie sich vor all den Monaten gefühlt hatte, nach ihrer Entdeckung, dass Mr Hunter das Haus ihres Vaters verlassen hatte. Als ihr klar geworden war, dass er sich nicht mit der Absicht trug, zurückzukehren, sondern auf Pflanzenjagd gegangen war, ohne sich auch nur zu verabschieden. Wut und Demütigung waren ihre ersten Empfindungen gewesen, auch wenn sie derartige Gefühle mittlerweile nicht mehr aufbieten konnte. Sie versuchte sich an den Kummer und Schock zu erinnern, als sie herausgefunden hatte, dass sie Mr Hunters Kind unter dem Herzen trug. Das Grausen ob Dr. Cattermoles Fingern an ihrer Haut und dem kalten Rachen des Spekulums in ihrem Innern. Die furchtbaren Qualen jener Momente, nachdem man das Kind aus ihrer Gebärmutter ausgetrieben hatte. Und dann die Trostlosigkeit beim Anblick ihres toten Mädchens, das so fest in sein Baumwolltuch eingewickelt war, das winzige Gesichtchen gequetscht und entstellt. Lilian hatte gelernt, niemals an diese Dinge zu denken, sodass die Erinnerung an den Säugling trübe und undeutlich zu sein schien, als betrachte sie eine Fotografie durch eine wässrige Linse. Sie verspürte eine gewisse Distanz zu dieser traurigen und schrecklichen Zeit, und ihr Elend war längst verblasst und hatte lediglich ein ohnmächtiges Verlangen nach Rache zurückgelassen sowie etwas, das sich vielleicht als Erleichterung beschreiben ließ.
Lilian senkte die Stimme, als sie sich vorbeugte. »Es hat ein Gerücht gegeben, ich habe wirklich keine Ahnung, inwiefern es zutrifft, dass Mr Hunter eine junge Dame verführt haben soll. Dass er sie verlassen hat, ohne einen Gedanken an ihr Wohlergehen zu verschwenden. Selbstverständlich kann es sich hierbei um ein reines Gerücht handeln. Sie sollten die Geschichte vielleicht nicht weitererzählen, schon allein deshalb nicht, damit der Name dieser unglückseligen jungen Dame nicht bekannt wird.«
»Wo haben Sie das gehört?«, flüsterte Miss Bell. »Und wann?«
»Kurz vor meiner
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