Handbuch für anständige Mädchen
erzählt hätte. Oder Mr Hunter. Vielleicht wäre der Superintendent daran interessiert, ein paar ihrer Bilder zu erwerben.
»Ja.« Mr Hunter ergriff das Wort, bevor Mr Vine antworten konnte. »Verschiedene Pflanzenarten werden in ganz Indien gesammelt und zur Züchtung hergebracht. Bei manchen misslingt es, bei anderen lassen sich Erfolge verzeichnen. So erhält man die Grundlagen für die Züchtung von Feldfrüchten – Indigopflanzen, Hanf, Mahagonibäume, Tee.«
»Und Sie haben Arten für diesen Garten gesammelt?«
»Nicht für diesen«, sagte Mr Hunter bestimmt. Ein Missverständnis zwischen ihm und der Gattin des Superintendenten des Gartens hatte dafür gesorgt, dass man ihn nicht beauftragt hatte, die Gärten der Company in Khinsamaghar mit Exemplaren zu versorgen, doch diese Information würde er Lilian gewiss nicht mitteilen. »Allerdings habe ich viele Arten für die Gärten von Kalkutta gesammelt. Und natürlich für Kew, wie auch für Privatsammlungen wie die Ihres Vaters.«
»Und Sie werden bald wieder weiterreisen, wie ich höre?«, sagte Dr. Mossly mit einem Lächeln.
»Ja. Demnächst.«
»Wann genau?« Dr. Mosslys Lächeln wurde starr.
»Demnächst.«
»Benötigen Sie Hilfe bei den Reisevorbereitungen? Mein Assistent im Hospital ist derzeit nicht allzu beschäftigt. Vielleicht sollte ich ihn zu Ihnen schicken?«
»Sie sollten besser vor der Regenzeit aufbrechen, oder etwa nicht?«, warf Mrs Birchwoode ein. »So lange das Wetter nicht zu heiß ist. Vor Mitte April wäre ratsam.«
»Du lieber Himmel, Libby!«, rief Mr Birchwoode, »man könnte meinen, du versuchtest, unseren Mr. Hunter loszuwerden.«
»Sollen wir uns unter dem Baum dort niederlassen?« Mr Hunter deutete auf den einzigen Schatten, der in dem ganzen Garten zu sehen war. Er bot Miss Bell seinen Arm. Heute trug er seine Reitstiefel und seine neuen Kalbslederbreeches. Dann hielt er eben eine andere junge Dame am Arm – und wenn schon? Vielleicht war es an der Zeit, dass Lilian merkte, dass sie nicht die einzige Schönheit in Kushpur war.
Miss Bell warf Mrs Birchwoode einen ängstlichen Blick zu. Sie nahm Mr Hunters Arm an, als habe er ihr einen toten Karpfen anzufassen gegeben, auch wenn es Mr Hunter nicht auffiel, da er wiederum zu sehr damit beschäftigt war, Lilian anzusehen. Lilian hingegen hatte Dr. Mosslys Arm ergriffen. Sie wies auf die erhabenen Bögen des Banyanbaumes und schien ungerührt ob des Anblicks von Mr Hunters männlichen Schenkeln und gut geschnittenen Reithosen.
»Wie heiß es ist.« Mrs Ravelston seufzte.
Die Gruppe bewegte sich auf den Schatten des Banyanbaumes zu. Die Europäer sahen tatenlos hin, wie die Träger die zahlreichen Picknickkörbe auspackten und deren Inhalte auf weißen Leinentüchern auf dem Boden ausbreiteten.
»Was für ein Baum ist das gleich noch?«, sagte Miss Bell, die kurzzeitig vergessen hatte, dass sie sich eigentlich nicht mit dem verrufenen Mr Hunter unterhalten sollte. »Und was sind diese stabähnlichen Dinger? Stützen sie ihn?«
»Es ist ein Banyanbaum. Im Grunde eine Art Feigenbaum, der den Hindus heilig ist. Und den Buddhisten. Sie sagen, er stehe für die Unsterblichkeit. Diese ›Stäbe‹, wie Sie sie nennen, sind besondere Wurzeln, die von den Zweigen wachsen, um den Baldachin zu tragen. Sie fungieren als Stützen, wenn der Baum breiter wird. Deshalb scheint der Banyanbaum ewig zu leben, denn er wächst einfach immer weiter und entwickelt dabei diese Wurzeln wie Stelzen. Auf Sanskrit heißt der Baum bahupada, was ›der Vielfüßige‹ bedeutet. Es gibt alle möglichen Geschichten über den Banyanbaum, müssen Sie wissen. Die Eingeborenen glauben, er gewährt Baumgeistern namens yakshas und halb menschlichen, halb tierischen Göttern namens kinnaras ein Zuhause. Und natürlich erzählen sie einem außerdem, dass in den Ästen himmlische Musikanten hausen. Wie Sie sich bei all diesen mythischen Geschöpfen und dergleichen, die dort oben wohnen, sicher vorstellen können, glaubt man, es bringe großes Unglück, einen Banyanbaum zu fällen.«
Gierig beobachtete Miss Bell, wie ein Träger eine gewaltige Wildpastete und zwei Flaschen Rotwein aus einem Weidenkorb hervorholte.
»Dort steht eine Buddha-Statue«, sagte Lilian und zeigte durch den Wald aus Banyanwurzeln. »Und gleich dahinter befindet sich ein Pepulbaum. Die Hindus sagen, der Pepulbaum sei der Ehepartner des Banyanbaumes. Das weibliche Gegenstück zum männlichen Banyan. Sie sagen, diese Bäume sollten
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