Handbuch für anständige Mädchen
wankte nur wie ein Aufziehmännchen im Kreis, bevor er nach hinten fiel und sich unbeholfen inmitten der niedergefallenen Blätter wälzte.
»Lily«, zischte er. »Wohin gehen Sie?«
»Möchten Sie mich wirklich heiraten? Sie müssen mir einen richtigen Antrag machen«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Er spürte ihre Lippen an den seinen, ihre Zunge fand seine, und dann war sie verschwunden.
»Mr Vine. Dr. Mossly. Sie haben mich also gefunden!«, rief Lilian, die zerzaust und atemlos aus der dunklen Höhle des Rhododendrons trat. »Gut gemacht, Gentlemen. Nun, bevor wir zu den anderen zurückkehren, muss ich gestehen, dass ich mir wahnsinnig gern den Wassergarten ansehen würde. Mr Hunter hat mir versichert, es sei ein wunderschöner Anblick. Meinen Sie, Sie könnten mir zeigen, wo er ist? Ich bin mir sicher, dass ich da vorn ein Geplätscher hören kann.«
Im Innern des Strauches erhob sich Mr Hunter schwankend. Er fegte sich Ameisen von den Beinen und knöpfte seine Breeches zu. Wie überaus aufreizend sie war! Er sah ihr nach, wie sie davonschlenderte, den Friedensrichter an einem Arm und den Arzt am anderen. Er wünschte, er könnte sie sich einfach aus dem Kopf schlagen, wie er es schon einmal getan hatte, doch er wusste, dass er es diesmal nicht konnte. Sie war alles, was er begehrte. Dennoch, sagte er sich, er hatte sie geküsst, hatte sie berührt, ja, hätte sie beinahe geliebt. Dies waren Dinge, die Mr Vine und Dr. Mossly ganz gewiss nie machen würden. Mr Hunter seufzte niedergeschlagen, als Lilian und ihre Begleiter nicht mehr zu sehen waren. Er konnte trotzdem nichts gegen die rasende Eifersucht tun, die von ihm Besitz ergriffen hatte.
4
Mr Hunter war auf dem Weg, Lilian einen Besuch abzustatten. Er hatte vor, ihr seine Absicht kundzutun, Kushpur zu verlassen, gen Norden und Osten zu reisen nach Oudh und von dort aus nach Sikkim, vielleicht über Kathmandu. Alles war vorbereitet. Der Weg, den er durch die wildesten Gegenden des Landesinnern einschlagen würde, über die Ebenen und die Berge, würde gefährlich sein, die Orte, die er erkunden würde, den meisten Europäern unbekannt. Es war eine Reise, die er allein unternehmen würde, zu Erkundungszwecken, schließlich wäre es sinnlos, einen Trupp Träger bis nach Kathmandu und weiter mitzuschleppen, wenn die dort ansässigen Nabobs ihn noch nicht einmal ihre Hoheitsgebiete passieren ließen. Sobald er sich vergewissert hatte, dass ein solches Unternehmen erfolgreich war, würde er im folgenden Frühjahr mit einer ganzen Expedition zurückkehren. Er brauchte nichts außer einem Pferd und einem Maulesel, der seine Lagerausrüstung tragen sollte. Und Lilian.
Sein Mund war trocken, als er das Gelände zu Lilians Bungalow überquerte. Das lag nicht daran, dass er wegen der Reise auch nur im Geringsten nervös war – schließlich war er schon viele Male durch das Land und wieder zurück gereist. Nein, sein Mund war trocken, weil er sich entschlossen hatte, Lilian zu fragen, ob sie ihn auf seiner Reise als seine Ehefrau begleiten würde. Er hatte seine Worte viele Male geprobt. Er würde in die Knie gehen. Er würde ihre Hand halten und sie nicht loslassen, bis sie ihm eine Antwort gegeben hatte. Er würde sie immer wieder um Verzeihung bitten, weil er sie in England im Stich gelassen hatte … aber nein, vielleicht wäre es besser, er erwähnte das nicht, eine höchst perfide Tat seinerseits, aber eine, die sie, wie es den Anschein hatte, bereits vergessen hatte. Es wäre gewiss ein Fehler, ihr seinen Egoismus und seine Treulosigkeit ins Gedächtnis zu rufen. Und überhaupt, sagte er sich, würde sein Heiratsantrag jegliche Spur zweifelhaften Verhaltens in der Vergangenheit auslöschen.
Doch ob Lilian sich nun bereit erklärte, ihn zu heiraten oder nicht, so war Mr Hunter jetzt gezwungen, Kushpur zu verlassen. Er hatte angefangen, sich den Bart wachsen zu lassen, den er für seine vollständige Rückverwandlung in den indischen badmash benötigte, dem er geähnelt hatte, als Lilian ihm das erste Mal auf dem Basar begegnet war. Deshalb waren seine Wangen bereits mit dichten, schwarzen Bartstoppeln übersät. Er rieb sich mit den Fingern über die Stoppeln, als er die Stufen zu Lilians Veranda erklomm. Mittlerweile war er so nervös, dass er sich kaum mehr entsann, was er hatte sagen wollen.
Mr Hunter wurde in Lilians Salon geführt. Als er an Harshad vorbeitrat, musste er feststellen, dass er nicht allein war. Sein Gesicht rötete sich vor
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