Hanibal
ihre fünftausend verschiedenen Götter geehrt sehen und ihren Feldherrn von den himmlischen Mächten begünstigt wissen. Deshalb die Reise zum Melqart von Gadir; deshalb in jedem Lager Hannibals das Zelt mit den zahllosen Statuen, Bildnissen und Amuletten. Melqart, der auch Herakles war, erdacht von trostbedürftigen Menschen und geformt von den feinsinnigen Fingern des großen Lysippos, würde in Zukunft einen Ehrenplatz unter ihnen einnehmen.
Hannibals angedeutete Erklärung für Roms Verhalten war verblüffend einfach, und je länger Antigonos darüber nachdachte, desto mehr überzeugte sie ihn. Ziel des Senats sei es, die Starken zu schwächen, bis man sie vernichten oder zu willfährigen Vasallen machen und schließlich eingliedern konnte, bis Rom die Welt, bis die ganze Oikumene Rom sein würde. Der Iberos-Vertrag hatte beiden Seiten Zeit gebracht; Rom hatte sie genutzt, um in Norditalien und Illyrien vorzugehen, Sizilien zu festigen und die Legionen zu erproben. Die Punier hatten die italischen Kelten gegen Rom aufgewiegelt, Rom die Iberer gegen Qart Hadasht. Nach den Listen des Senats konnten Rom und seine italischen Bundesgenossen – Sabiner, Etrusker, Umbrer, Sarsinaten, Veneter, Cenomanen, Latiner, Samniten, lapygen, Messapier, Lukaner, Marser, Marruciner, Frentaner, Vestiner – insgesamt an Waffenfähigen siebenhunderttausend Mann zu Fuß und an die siebzigtausend Reiter aufstellen. Mit ihren über zweihundert Kriegsschiffen beherrschten sie das Meer von Massalia bis Sizilien. Sobald der Senat eine Schwäche des Gegners sah und einen halbwegs vertretbaren Grund fand, sie auszunutzen, würden der Lutatius-Vertrag und der Iberos- Vertrag nicht einmal den Papyros wert sein, auf dem sie standen. Bis hierhin war für Antigonos nichts Neues in Hannibal Überlegungen; verblüffend war allein die Erklärung , weshalb Rom nicht längst angegriffen hatte: Parteiengezänk und Widerstand seitens bündnistreuer Römer. Während des Großen Sizilischen Kriegs hatte es viele römische Bürger gegeben, die den Krieg für unsinnig hielten; erst jahrelange Hetzreden der Rhetoriker und abstruse Greuelgeschichten – etwa, Regulus sei von den Puniern zu Tode gefoltert worden – hatten dem Senat den gnadenlosen Vernichtungskrieg bis zum Ende ermöglicht. Als im Libyschen Krieg Qart Hadasht vor dem Untergang stand, drängten Teile der römischen Bevölkerung ihre Führung dazu, die Punier mit Getreide und anderem zu beliefern und die Angebote der Aufständischen auf Sardonien abzulehnen; erst Brandreden, zwei Jahre lang gehalten, über den Wiederaufstieg den bedrohlichen von Qart Hadasht hatten den Widerstand gebrochen. Bei Beginn der Belagerung von Zakantha hatten wiederum Teile der römischen Bürgerschaft auf einer Achtung des Iberos-Vertrargs bestanden und den Frieden zwischen Rom und Qart Hadasht beschworen; erst jetzt, durch tränenreiche Reden über schnöde verratene Verbündete, war es den Rhetoren der Kriegstreiber gelungen, den Vertrag und seine Verpflichtungen ebenso abzuwerten wie die auf dem Papyros bestehende Freundschaft.
Nicht undurchschaubare Berechnungen eines verschlagenen Gegners, sondern innere Widerstände waren Ursache für die seltsamen Schwankungen der letzten Jahre. Zwei Jahre, hatte Hannibal gesagt, brauche er, um den Wall wieder sicher zu machen, aber wahrscheinlich würde Rom ihm diese Jahre nicht geben. Er schien mehrere Möglichkeiten vorauszusehen. Entweder geschah ein Wunder, Roms Gesandte ließen sich auf die geltenden Verträge festlegen, nach denen Zakantha im punischen Einflußbereich lag, und der Friede blieb erhalten; oder Rom erklärte, mit Zakantha als Vorwand, den Krieg. Wenn es zur Kriegserklärung kommen sollte, gab es ebenfalls mehrere Möglichkeiten: Rom beschränkte sich auf Flotteneinsätze und ließ alles nach kurzem Geplänkel einschlafen, weil die Ehre gerettet war – das war die sinnvollste und darum unwahrscheinlichste Möglichkeit. Oder Rom schickte Truppen nach Iberien. Oder Rom griff Qart Hadasht unmittelbar an, in Libyen. Oder beides.
Und das Dilemma des Strategen von Libyen und Iberien war, daß er mit kaum einem Zehntel der Mannschaften, die Rom einsetzen konnte, Vorkehrungen gegen all diese Möglichkeiten treffen mußte und nicht gleichzeitig treffen konnte. Um Iberien schnell zu sichern, müßte er den letzten Rest des Iberos- Vertrags zerfetzen und den Grenzfluß überschreiten, die dortigen Völker unterwerfen oder zu Bundesgenossen machen und so Rom die
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