Hanibal
Magst du mir deine Stadt zeigen? Die Tage und die Nächte?«
Antigonos starrte in den grauen Winterhimmel. In den nächsten Stunden würde der kräftige Nordwind die Wolkendecke zerreißen und das kalte Blau aufleuchten lassen.
»Warum, Herrin des Handels?«
»Die größte und reichste Stadt der Oikumene, und eine der ältesten – man sollte sie kennen.« Sie ließ seine Hand los. »Vor allem wüßte ich gern, weshalb du sie so sehr liebst, daß du nun glaubst, sie zu hassen.«
Antigonos ergriff die kräftigen Schultern der Kyprerin und sah ihr in die Augen. »Ich preise den gestrigen Tag, der dich in die Bank führte. Komm.«
Durch Nebenstraßen erreichten sie den bewachten Zugang zum Handelshafen; fremde Händler durften ihn nicht betreten, sondern mußten an der Außenmole festmachen, aber für den Herrn der Sandbank und Freund der Barkiden gab es keine Sperren. Am Südende des Beckens, gleich neben der beweglichen Brücke, aßen sie frischen Fisch in einer niemals geschlossenen Taverne. Die Kyprerin betrachtete die Muskeln der Stauer und Fischer, sämtlich Punier und Libyer, verglich halblaut die rötlichen und braunen Schurze mit den eher hellen, die die Hafenarbeiter im Osten des Meers trugen, erkundigte sich nach Bedeutung von Amuletten und bemerkte, daß kaum jeder Zehnte ein paar Tropfen seines Morgentranks – meistens warmes Bier – vergoß, um die Götter zu ehren.
»Sehr verblüffend und – anders.« Vor dem großen Laden eines Segelmachers blieb sie stehen. Hinter der offenen Tür hockten vier Männer und drei Frauen zwischen Tuchballen und sauber zusammengelegten Bahnen; sie schnitten und nähten, rutschten auf Knien umher, hantierten fast unsichtbar schnell mit Meßstöcken. Frauen und Männer waren gleich gekleidet; alle trugen Schurze, kurze Tuniken und Sandalen. »Sehr anders.«
Antigonos zog sie einige Schritte weiter. »Die Grotte der Düfte.« Er wies in die tiefe Lagerhalle der Genossenschaft der Nasenmeister. »Hier steckt auch ein Teil dessen, was die Bank und ihre Untergruppen betreiben. Wieso anders?«
»In den hellenischen Häfen arbeiten nur Männer; ich habe nie von Segelmacherinnen gehört. Und nichts von dem, was über die Sitten der Karchedonier gesagt wird, stimmt.« Sie schloß die Augen, rümpfte die Nase ein wenig und nahm die tausend Düfte auf, die aus den Regalen und Bottichen, den gestapelten Kisten mit Flaschen, den Reihen größerer Amphoren drangen. Immer ging einiges zu Bruch; immer flossen beim Abfüllen Tropfen kostbarer Essenzen neben die Behälter.
»Was meinst du? Die Kleidung? Die arbeitenden Frauen?«
»Ach, alles. Die Punier gelten als finstere Frömmler; aber kaum einer der Biertrinker opfert den Göttern. Die Punier, heißt es, verbergen ihre Körper und hüllen sich auch in der schlimmsten Hitze in dicke Tücher; aber jetzt sehe ich, daß die Stauer sogar im Winter fast nackt arbeiten. Wie ist es zu erklären, Herr der Sandbank? Ist alles, was über Karchedon berichtet wird, Lüge?«
»Geschichten brauchen Zeit, um sich zu verbreiten, und wenn sie das andere Ende des Meers erreicht haben, ist ihr Ursprung vielleicht schon verändert.« Er lächelte. »Es gibt Punier, die in jedem einzelnen Makedonen Alexandros sehen.«
Am Nordende des Hafens schob Antigonos seinen Arm unter den der Kyprerin. »Komm; ich will dir etwas Besonderes zeigen.«
»Was?«
»Etwas, das nicht einmal gewöhnliche Punier sehen dürfen.«
Sie kamen an der Hafenseite der Bank vorbei. Bostar stand im Kundenraum und sprach mit einem bärtigen, wollhaarigen Kapitän, warf ihnen über dessen Schulter einen Blick zu und machte eine Handbewegung, die eher ein sichtbarer Seufzer war denn ein Gruß.
»Was hat er?«
Antigonos giggelte leise. »Wenn ich ihn richtig verstehe , findet er, ich sollte mich um die Geschäfte kümmern und nicht mit fremden Frauen lustwandeln.«
Dreißig Schritte weiter erreichten sie die Klappbrücke über den »Flaschenhals«. Die gegenseitige Durchdringung der beiden großen Handelssprachen der westlichen Oikumene, des Punischen und der hellenischen Koine, hatte zahlreiche Mischbegriffe gezeugt und Wortherkünfte verwirrt. Ursprünglich war der kothon von Qart Hadasht der »kleine Hafen« gewesen, im Gegensatz zum großen äußeren Liegeplatz an Mole und Meer; das uralte phönikische qatn, klein, war jedoch in Karchedon längst vergessen, und die Punier selbst bezogen sich nun auf die alte, kothon genannte Feldflasche der lakedaimonischen Krieger. Dem
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