Hanibal
römischen Bundesgenossen unter dem unmittelbaren Befehl von Gaius Terentius Varro waren umeinander und durcheinander geritten. Hanno und Maharbal wichen einem tatsächlichen Reiterkampf aus, lockten die Latiner weiter fort von der Phalanx. Zwischen dem römischen linken Flügel und der Masse der Fußkämpfer öffnete sich eine Lücke, wuchs schnell. Die vielleicht dreitausend Balliaren, Gätulier und Ligurer stießen in diesen Zwischenraum und trieben die latinischen Reiter mit Steinen und Speeren noch weiter zur Seite. Durch den Vormarsch, das Vorwärtsmalmen und Vorwärtswalzen der Phalanx hatten Hannibals Leichtbewaffnete inzwischen jede Fühlung zu den eigenen Reihen verloren und standen fast schon im Rücken der Römer.
Etwas, vielleicht das Gekreisch des lakedaimonischen Chronisten, brachte Antigonos auf den Turm zurück. Er wußte nicht, wo er gewesen war; zerstückelt in tausend Brüche und Augenteile, die jetzt wieder zusammenfanden. Sosylos hüpfte herum und schrie unausgesetzt »oh oh oh« oder »ah ah ah« oder »ei ei ei«; etwas, das sich anhörte, wie »ulalaleja«, sollte wohl seine Fassung des makedonischen Kriegsschreis sein. Der Spartaner war fahl; die Augen standen vor dem Kopf, die Lippen waren zurückgezogen, die Zunge hing heraus. Antigonos rüttelte ihn.
»Was? Was? Was?«
»Komm zu dir, Mann!«
»Ah,Tiggo.«
»Ah, Sosylos! Warum schreist du so herum?«
Der Chronist holte tief Luft. Die Augen zogen siclrin die Höhlen zurück. »Schreien? Ich? Wie spät…?«
Erst jetzt bemerkte der Hellene, wie weit die Sonne inzwischen nach Süden gewandert war. Seit seiner letzten bewußten Wahrnehmung der Umgebung mußte eine Stunde vergangen sein.
Sosylos blickte ebenfalls zur Sonne, wandte sich dann wieder dem Schlachtfeld zu und fuhr mit der Rechten über die Mauerkante. »Ach, was soll’s denn. Jeden Moment wird alles reißen, da vorn. Dann beginnt das Malmen und Schlachten.« Er klang, als werde er im nächsten Moment zu weinen beginnen.
Antigonos schüttelte leicht den Kopf; er fühlte sich beinahe betrunken. »Armer blinder Narr!« Er deutete auf die Ausbuchtung, die inzwischen fast die Form eines Halbkreises hatte. Die keltischen Reihen hielten noch, es gab keine Lücke.
»Wieso Narr?«
»Siehst du es denn nicht? Sosylos, siehst du es denn nicht? Den größten Triumph des größten aller Strategen?«
»Du bist wahnsinnig!«
Antigonos antwortete nicht. Er starrte hinüber zu den Reihen und Gruppen, den gestaffelten Blöcken der Libyer und Iberer, die neben dem keltischen Buckel gewartet hatten, ohne einzugreifen. Die römische Phalanx begann, an ihrer eigenen Masse zu ersticken. Achtzigtausend Fußkämpfer, tiefe Reihen, die fast alle nicht zum Einsatz kamen. Das größte Heer, das je auf italischem Boden gestanden hatte, drängte den Halbkreis von vielleicht zehntausend Kelten zurück, in die Linie, in eine Wölbung nach hinten. Die tiefe Staffelung bewirkte ungeheuren Druck, aber kämpfen konnten nur die ersten Reihen.
Neue Signale. Jetzt, endlich, nach zwei Stunden des Wartens , rückten die Libyer und Iberer vor, schwenkten nach innen. Durch das römische Vorwärtswalzen waren sie in die Flanke der Legionäre geraten; nun schlossen sie die Zange. Allmählich wurde auch deutlich, was sich auf dem Flügel der Numider getan hatte. Hasdrubals schwere Reiter waren nicht lange bei der Verfolgung der fliehenden Ritter geblieben; hinter den römischen Linien waren sie auf ihren frischen, noch nicht von Kämpfen geschwächten Pferden in den Rücken der latinischen Reiter des Terentius Varro gezogen, um zusammen mit den Numidern und Leichtbewaffneten innerhalb von Minuten auch diesen Flügel auszuschalten.
Nun fächerten sich die Numider auf, jagten über die Ebene am Aufidus, setzten den Flüchtenden nach; die Leichtbewaffneten schlossen sich an die rechts der Mitte vorgerückten Libyer und Iberer an und verlängerten die Zangenbacke. Hasdrubals Kataphrakten machten kehrt, schwenkten, verbanden hinter der römischen Phalanx die beiden Backen der punischen Zange, schlossen den Kessel.
Am Nachmittag flüchteten etwa zweitausend Römer zur Burg von Cannae, die nicht verteidigt wurde; sie waren zu erschöpft und zu entsetzt, um Antigonos’ goldbeladene Esel zu behelligen oder auch nur zu bemerken, daß der Hellene und Sosylos auf dem Turm der Burg saßen. Es dauerte nicht lange; Hasdrubals schwere Reiter rückten an, und fast ohne Gegenwehr ergaben sich die aus dem Kessel Entkommenen.
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