Hanibal
Dingen, erdachte ihnen gewissermaßen Verstärkung und Flankenschutz und mehrte ihre Wucht. Er hatte niemals Ärger mit seinen Zähnen gehabt; nun, da er darüber grübelte, daß das Leben seinen Biß verloren habe, begannen sie zu schmerzen. Weil er meinte, er sei alt, fühlte er sich wie ein Greis. Gerissene, einfallsreiche Geschäfte ließen ihn kalt; also fiel ihm nichts ein, und alle guten Geschäfte gingen auf Bostars Ideen zurück. Der ausgelaugte Greisenkörper werde, davon war er überzeugt, nie wieder eine Frau lieben, nie wieder eine lange Seereise ertragen, nie wieder auf einem Pferd sitzen; die Hafenkaschemmen langweilten ihn, Wein schmeckte wie Wasser, frisches Brot und der beste Braten glichen Papyros. Er spielte zerstreut mit einem Schreibhalm, knickte ihn, legte ihn auf die Tischplatte, starrte in die Vergangenheit. Seit drei Jahren keine Nachrichten, kein Lebenszeichen von seinem Bruder Attalos aus Massalia – Krieg. Vor fünf Jahren hatten die Schwester Arsinoe und ihr Mann Kassandros das alte Haus der Familie im Viertel der Metöken und das alte Handelsgeschäft beziehungsweise ihre Anteile daran an ihn verkauft und sich mit den erwachsenen Kindern nach Athen begeben. Sie brauchten nichts oder nicht viel zu tun, konnten von ihrem Vermögen leben. Aber sie waren nicht mehr da. Argiopes Mann war gestorben, vor wieviel Jahren? Sieben? Acht? Die Schwester lebte in dem alten Gutshaus an der Küste, nordwestlich von Qart Hadasht und Tynes, das sogar den Krieg der Söldner unbeschädigt überstanden hatte; Antigonos wußte nicht einmal, was ihre Kinder heute machten. Isis’ Sohn Memnon tot, in Italien; Tsuniros Sohn Ariston fröhlich, reich und im Rahmen der Möglichkeiten mächtig, aber fern im Süden. Der Hellene seufzte leise, ohne es zu bemerken, und sagte sich, es wäre das Gescheiteste, Qalaby und die beiden Enkel zu lieben – aber im Moment haßte er sie, weil sie ihn an Memnon erinnerten und ihn nachts störten; mit ihnen aufs Land zu ziehen und ein lieber greiser Großvater zu sein – aber die Aussicht entsetzte ihn.
»Weißt du, was dir fehlt?«
Antigonos zuckte zusammen und blickte zu Bostar hinüber.
»Nein. Was?«
Bostar grinste. »Eine lange Fahrt mit der Schwinge, jede Nacht das große Zechen mit Bomilkar auf dem Achterdeck, Besuche in Häfen, und wie hieß diese Halbhellenin? Tomyris? Ein paar Monde in ihrem Bett. Das fehlt dir, Junge.«
»Kannst du Gedanken lesen?«
»Nein, aber dein Gesicht.« Er erhob sich und kam vor Antigonos’ Tisch. »Steh mal auf, Mann.«
»Warum?«
»Los, steh schon auf. Es ist wichtig.«
Antigonos zuckte mit den Schultern und stand auf. Bostar drehte ihn so, daß er zum Fenster blicken mußte, trat zurück und rammte ihm den rechten Fuß ins Gesäß.
»Deshalb«, sagte er beinahe ernst, als Antigonos herumfuhr.
»Wenn du dich nicht selber in den Arsch trittst, muß ich es eben tun.«
Ob dank Bostars Tritt oder aus anderen Gründen: Antigonos verließ das düstere Tal; die Zähne schmerzten nicht mehr. Ein Backenzahn fiel aus. In den folgenden Monden entwickelte sich eine gewisse Herzlichkeit zwischen dem Hellenen und seiner iberischen Schwiegertochter, und innige Liebe zwischen dem Großvater und den Enkeln. Die Wohnung am Tynes-Tor lebte; dennoch hielt Antigonos sie nicht für den besten denkbaren Aufenthaltsort.
»Die Kinder brauchen etwas anderes«, sagte er an einem der milden Winterabende, als Hamilkar und Aristeides schliefen und er mit Qalaby im großen Wohnraum saß, wo sie warmen Würzwein tranken und den Duft atmeten, den die Kohlebecken – Holzkohle und tausend Krauter, darunter ein wenig Weihrauch – sengend aussandten.
»Was, Vater?« Qalabys Gesicht war ein Spiel von Umrissen, die sich verschoben, Licht und Schatten, die wechselten, Augen, die leuchteten, Zähnen, die glitzerten.
»Bessere Luft. Mehr Platz.«
»Wir sind dir dankbar für alles.« Qalaby deutete im Sitzen eine Verneigung an.
Antigonos wußte, daß es kein leeres Gerede war; er wußte auch, wie schwer man ihnen die letzte Zeit in Iberien gemacht hatte. Nach Kriegsbeginn, als Memnon mit dem Heer in den Norden zog, war Qalaby zunächst im neuen Qart Hadasht geblieben; später, zur Geburt des zweiten Kindes, hatte sie sich in den Schoß ihrer Sippe zurückgezogen, in die Berge jenseits von Mastia. Als Hannibal nicht zurückkehrte, sondern nach Italien ging, mit Memnon, und als die Römer in Nordiberien landeten, änderte sich die Stimmung, selbst nahe am neuen
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