Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannah, Mari

Hannah, Mari

Titel: Hannah, Mari Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sein Zorn komme uber uns
Vom Netzwerk:
den Tropf an ihrem Bett. Jo öffnete die Augen ein ganz klein wenig. Das Bild der Krankenschwester war verwischt. Es löste sich in nichts auf, als sie in die Bewusstlosigkeit zurückglitt.
    Stunden später – oder waren es Tage? Jo wusste es nicht zu sagen –, sie watete gerade durch wirre, zähflüssige Erinnerungen, als eine Hand sanft über ihren Arm strich. Dann kam eine Stimme. Sie klang vertraut, aber Jo wusste nicht zu sagen, wem sie gehörte.
    »Kannst du mich hören, Mum?«
    Toms Stimme schien schwach und weit entfernt. Jo hatte das Gefühl, als würde sie durch ein Schlüsselloch zurück ins Bewusstsein gezerrt. Sie schlug die Augen auf, versuchte angestrengt, sich zu konzentrieren. Alles, was sie sehen konnte, war ein dunkler Schatten, der über ihr aufragte. Dann entstand daraus Stückchen für Stückchen ein Umriss. Ihr ältester Sohn war groß und blond mit gebräunter Haut und sah seinem Vater verblüffend ähnlich. Er nahm ihre Hand und blickte ihr tief in die Augen.
    Jos Gesicht war so verschwollen, dass sie es kaum schaffte, ein kleines Lächeln zustande zu bringen. Ihre Lippen fühlten sich gummiartig und taub an, wie nach einer Betäubung beim Zahnarzt. Ihr Mund war ausgetrocknet. Sie schluckte unter Schmerzen und versuchte zu antworten. Das Geräusch, das herauskam, hörte sich nicht wie Sprache an.
    »Nicht sprechen …«, sagte Tom. »James ist unterwegs. Eigentlich müsste er längst hier sein.«
    Kaum hatte er das gemurmelt, wurde die Tür aufgestoßen und James Stephens fiel ein wie ein ungebetener Gast, der eine Party sprengt. Als er sah, in welchem Zustand seine Mutter sich befand, blieb er wie angewurzelt stehen. Er war eine blassere Ausgabe von Tom; groß mit aschblondem Haar, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Er ließ seinen Rucksack zu Boden fallen und grinste nervös.
    »Manche Leute tun einfach alles, um Aufmerksamkeit zu kriegen«, sagte er.
    James zwinkerte Tom zu, dann beugte er sich über das Bett, nahm ihr verletztes Gesicht in beide Hände und gab seiner Mutter einen Kuss. Jo zeigte auf den Wasserkrug auf dem Nachttischchen neben dem Bett. James goss ein bisschen Wasser in ein Glas, hob es an ihre Lippen und wischte mit dem Ärmel seines Pullovers ein paar Tropfen ab. Die Stimme seiner Mutter war kaum zu hören, als sie in sein Ohr flüsterte.
    »Du riechst wie eine ganze Brauerei.«
    James zeigte auf seine Brust. »Moi?«
    Jo nickte kaum wahrnehmbar.
    »Dann sind wir ja schon zwei«, sagte er.
    Während er zum Fenster ging, um sich einen Stuhl zu holen, warf er Tom einen besorgten Blick zu. Als er wieder an Jos Bett war, war sein freches Grinsen zurückgekehrt. Er stellte den Stuhl mit der Lehne in Richtung Kopfende, setzte sich rittlings darauf und beugte sich vor, das Kinn auf die Unterarme gestützt.
    Er blickte seiner Mutter direkt in die Augen. »Dass das klar ist. Ich bin nicht den ganzen Weg hierher gekommen, um mir eine Strafpredigt abzuholen. Davon krieg ich genug in Sheffield. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Und hab im Zug ein paar Pints getrunken, um meine Nerven zu beruhigen. Das ist alles. Jetzt, wo ich gesehen habe, dass du bei bester Gesundheit bist, bleibe ich abstinent bis ans Ende meiner Tage. Abgemacht?«
    Jo war schon wieder in tiefen Schlaf gefallen.
    Sie hinterließen eine Nachricht an ihrem Bett, um ihr zu sagen, dass sie am nächsten Morgen wiederkämen, und fuhren schweigend nach Hause. Tom ging direkt ins Badezimmer, er musste dringend. James ging in die Küche, zog seine Jacke aus und warf sie über einen Stuhl.
    Seine Brieftasche fiel heraus.
    Er bückte sich, um sie aufzuheben, voller Wut und Reue.
    Die Brieftasche lag offen da, das Foto darin war beinahe so alt wie James, der Mann darauf tadellos gekleidet, offensichtlich aus bestem Hause. James betrachtete es konzentriert. Andere Väter posierten mit ihren Kindern auf den Knien, und die Kleinen im Paddington-Pyjama hörten die passenden Geschichten dazu. Nicht so der seine. Sein Vater war ein egoistischer Größenwahnsinniger, ein selbstsüchtiger Mistkerl, der es überhaupt nicht verdiente, in seiner Brieftasche zu sein. Es nie verdient hatte. Nie wieder darin sein würde.
    Er nahm das Foto heraus, zerriss es in kleine Fetzen und warf es in den Mülleimer.
    »Exfreundin?«, fragte Tom, als er, noch immer im Mantel, aus dem Flur hereinkam.
    »So was in der Art.« James setzte sich.
    Tom tat es ihm gleich. »Alles okay mit dir?«
    »Ja, mir geht’s gut!« James seufzte

Weitere Kostenlose Bücher