Hannah, Mari
Vaterfigur, nur kein wirklicher Vater.
»Es war nicht dein Fehler, Chef.«
Bright schluckte schwer. Offensichtlich war er anderer Meinung. »Man fühlt ja mit, Kate. Eben noch ganz oben und dann plötzlich wieder ganz unten.«
Stimmte das etwa nicht? »Hab Geduld, Chef. Es ist noch früh.«
Bright sah ihr tief in die Augen; seine Oberlippe fing an zu zittern, als sein Blick zu seiner schlafenden Frau zurückkehrte. »Bleib hier, Kate … Nur heute Nacht.«
Daniels holte tief Luft. Für einen kurzen Augenblick hatte er sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie umarmte ihn flüchtig, klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Kümmer dich um sie.«
Dann drehte sie sich um.
23
HOLMES ist die Abkürzung für »Home Office Large Scale Major Enquiry System«: eine computergestützte Datenbank für Kapitalverbrechen, die das antiquierte manuelle Ablagesystem der Achtzigerjahre revolutioniert hatte. Aber jedes System ist nur so gut wie die Menschen, die es bedienen, und ein guter Mann an der Datenbank war für die Mordkommission Gold wert, genauso wichtig wie jeder Detective oder Ermittlungsleiter. Daniels hatte ein gutes Team zusammengestellt: eine engagierte Truppe, der sie zutraute, jeden noch so versteckten Querbezug zwischen verschiedenen Informationsbröckchen herzustellen, ganz gleich wie klein oder anscheinend unbedeutend es erscheinen mochte. Sie hatte DS Robson zum Aktenführer für die Zeugenaussagen berufen, doch im Nachhinein betrachtet, hätte sie jemand anderen wählen sollen. Sein plötzliches Verschwinden in den Vaterschaftsurlaub würde sie in Schwierigkeiten bringen.
Während sie in die Stadt fuhr, musste Daniels sich Gedanken über einen Ersatzmann machen. Mit Bedacht die Möglichkeiten abwägend, kam sie schließlich auf ein ehemaliges, erst kürzlich befördertes Mitglied der Mannschaft: Detective Sergeant Ryan O’Daughty aus dem Northern Area Command. Nicht, dass es schon viele Aussagen zu lesen gäbe; die Haus-zu-Haus-Befragung hatte noch nicht einen einzigen Zeugen hervorgebracht. Eigentlich kaum überraschend angesichts der Festivitäten zur Bonfire Night. Der Mörder war nur einer unter vielen tausend Fremden, die in jener Nacht in der Stadt gewesen waren. Sie fragte sich, ob er das so geplant oder einfach nur Glück gehabt hatte.
Sie betrat die Einsatzzentrale in aller Frühe, fest entschlossen, O’Daughtys Vorgesetzten anzurufen. Wie in jedem Mordfall, an dem sie bisher gearbeitet hatte, wurde der begrenzte Raum allmählich zum Problem. Schreibkräfte, Datentypisten und Mitglieder der Mordkommission waren zusammengepfercht, teilten sich Arbeitstische, waren frustriert darüber, dass ihnen nicht die Möglichkeiten geboten wurden, die der Job erforderte. Doch am Ende würden sie zurechtkommen. Das taten sie immer.
Mit etwas Abstand betrachtet, war der Platz nicht entscheidend, man musste einfach seinen Job machen.
In ihren Anfangsjahren bei der Polizei hätte Daniels mit Freuden ohne Bezahlung gearbeitet und dies auch häufig getan. Aufopferung schien ihr unerlässlich, um es als Frau bis ganz nach oben zu schaffen, egal in welchem Beruf. Mutterschaft war das unübersehbare Beispiel dafür, worauf sie verzichtet hatte, um ihre Karriere zu verfolgen. Doch das war eine Entscheidung, die sie jederzeit wieder so treffen würde.
Das Leben war zu kurz für Reue.
Plötzlich war sie in Gedanken wieder bei ihrem Vater. Als sie an ihre Kindheit dachte, an die Nachmittage, die sie mit ihm verbracht hatte, an denen sie sich Cowboyfilme angesehen hatten, musste sie lächeln. Gute Zeiten. Er hatte ihr den Spitznamen Annie Oakley gegeben und sie damit häufig aufgezogen. Wenn sie die Cowboygeschichten nachgespielt hatten, war sie nie der Revolverheld gewesen, sondern immer der Sheriff. Einmal hatte er ihr gesagt, sie sei dazu geboren, »das Recht zu wahren«.
Damals hatte sie keine Ahnung, dass diese Bemerkung sie später trennen würde.
Sie fragte sich, ob er jemals etwas bedauerte. Er war derjenige, der sie gelehrt hatte, stolz auf das zu sein, was sie tat, der ihr den Sinn für Hingabe und Leistungsbereitschaft eingepflanzt hatte – gute altmodische Eigenschaften, die sie zu der beeindruckenden Polizistin machten, die sie war. Er war derjenige, der ihr ein eindeutiges Gespür für falsch und richtig vermittelt hatte. Daniels schluckte. Einst war er ein leidenschaftlicher, hart arbeitender, stolzer Mann mit viel Humor gewesen – bis zu ihrem zehnten Lebensjahr, in dem sich alles änderte.
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