Hannah, Mari
sah auf ihre Uhr. Es war zu früh, um Ron Naylor anzurufen. Sein Opfer würde erst noch am Tatort untersucht werden und anschließend für eine vollständige Obduktion ins Leichenschauhaus gebracht werden müssen. Erst dann würde die Spurensicherung Zugriff auf die Karte erhalten, die an Daniels Unterbewusstsein nagte, seit sie davon erfahren hatte. Womöglich hatten Naylors Fall und der Mord an Sarah Short und Father Simon tatsächlich etwas miteinander zu tun.
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Er hatte die absolute Kontrolle: Seine Waffen hatten viele Türen geöffnet, ihm Zutritt verschafft, wo immer er es wollte – ob er willkommen war oder nicht. Er wusste, was er wollte und wie er es bekam, auch wenn er zugeben musste, dass er es auf die harte Tour gelernt hatte.
Bei der ersten Schlampe, die er umgelegt hatte, hatte er zu viele Hinweise hinterlassen, innerhalb von Tagen war er geschnappt worden. Noch heute, zwanzig Jahre danach, war jedes Detail seines Prozesses so tief in sein Gedächtnis eingebrannt wie das Tattoo auf seinem Schädel. Der Gerichtssaal, heiß und überfüllt, sein Schicksal, das in den Händen von zwölf Fremden lag, von denen keiner es wagte, seinem Blick zu begegnen. Die allesamt wegschauten, wenn er sie ansah, unbeeindruckt vom Ernst der Lage, während Beweisstück um Beweisstück einen anklagenden Finger in seine Richtung ausstreckte.
Das Unbehagen der Jury war nicht zu übersehen. Als die Fotos seines Opfers gezeigt wurden, zu Brei geschlagen wie es eine Hure nicht anders verdiente, brach sogar eine Frau auf der Geschworenenbank in Tränen aus.
Alberne Schnitte.
Niemand fragte danach, was er empfand.
Und die beiden? Hatten zugesehen, aneinandergedrängt auf der Zuschauergalerie gesessen und getan, als ginge sie das alles nichts an. Genau wie an dem Tag, an dem sie ihn ohne jeden Grund ins Heim gegeben hatten – gelogen hatten, um ihn loszuwerden – und dabei so taten, als würden sie ihn unterstützen. Sie verabscheuten ihn – aber seine Eltern würde er sich bis ganz zum Schluss aufheben.
Nur warum die beiden diesen Tag schniefend und Händchen haltend im Gerichtssaal gesessen hatten, konnte er sich nicht vorstellen. Vor allem sie. Sie hatte schließlich mehr Zeit damit verbracht, in der Sonntagsschule zu unterrichten, als sich um ihn zu kümmern.
Verdammte moralinsaure Tugendbolde.
Sie war nur noch am Leben, weil er beschlossen hatte, sie nicht zu töten – noch nicht. Nun ja, sie starb ohnehin schon vor Scham, war lebendig begraben genau in der Art, die Leute wie sie verdienten. Bis er mit ihrem Kopf fertig wäre, würden längst Bücher über sein Leben geschrieben worden sein, ein Film vielleicht, mit einem Superstar in der Hauptrolle, der ihn spielte, vielleicht sogar ein Mehrteiler oder eine Fernsehserie.
Hübsch.
Er konnte es schon vor sich sehen: sein Name, ihr Name – als Leuchtreklame oder auf Plakaten überall im ganzen Land. Das könnte sie wohl kaum ignorieren. Deshalb war er so wütend. Jeder Profiler, der sein Geld auch nur halbwegs wert war, hätte den Bullen inzwischen längst einen Hinweis geben müssen, hätte seine Akte ausgraben, etwas über seine Besessenheit von der Truppe Gottes herausgefunden haben müssen.
Was zum Teufel machten die eigentlich?
Warum hatten die nicht längst eins und eins zusammengezählt?
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Kate Daniels schaute sich in der Einsatzzentrale um. Maxwell schien endlich einmal ruhig zu arbeiten, seine persönliche Befugniskarte steckte in seinem Computer. Sie schlenderte zu ihm hinüber und erblickte das Softpornomagazin, das er mit allen Mitteln zu tarnen suchte. Als sie ihn ansprach, erschrak er beinahe zu Tode.
»Neil, das Team für Taktische Unterstützung wartet händeringend auf ein paar Akten. Flitzen Sie mal runter in die Verwaltung und holen Sie die, ja?«
Ein verächtliches Grinsen erschien auf Maxwells Gesicht, als er davonging. Offensichtlich dachte er, er hätte sie ausgetrickst. Dabei war sie gerade im Begriff, dies mit ihm zu tun. Sobald er außer Sicht war, setzte sie sich auf seinen Platz und fing an, die Fahrzeugdatenbank zu durchforsten. Sie musste zügig arbeiten, scrollte rasch nach unten und behielt zugleich die Tür im Auge, falls er zurückkäme.
Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Tasche und meldete sich, während sie die Ellbogen auf den Tisch stützte, das Kinn auf die Hand legte und mit der anderen das Telefon ans Ohr hielt. Ihre Augen waren auf den Bildschirm gerichtet – huschten hierhin, dorthin, überallhin –,
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