Hannah, Mari
während sie aufmerksam dem Anrufer zuhörte.
Scheiße!
Sie legte auf und verließ das Gebäude, ohne ein Wort zu irgend jemandem.
Die Straßen waren vollkommen verstopft. Jede Ampel, jeder Fußgängerüberweg und jedes langsam fahrende Auto gehörte einer einzig gegen sie gerichteten Verschwörung an. Sie beschloss, die Innenstadt zu umfahren, um von der Südseite des Flusses ins West End zu gelangen. Obwohl das einen Umweg von ein paar Meilen bedeutete, war es die richtige Entscheidung. Auf der Gateshead-Seite des Tyne konnte sie schneller fahren, bis sie irgendwann nach rechts abbog und auf der Redheugh Bridge den Fluss wieder überquerte.
Auf der Nordseite des Flusses bog sie links ab, fuhr die West Road anderthalb Meilen geradeaus, bis sie an ein Schild kam, das zum NEWCASTLE GENERAL HOSPI-TAL wies. Einen Block weiter bog sie nach rechts auf das Gelände des Krankenhauses ab, wo sie mit quietschenden Reifen auf einem nur für Rettungswagen ausgewiesenen Parkplatz stehen blieb. Sie stieg aus und rannte zum Haupteingang, wo sie schnell die Informationstafel überflog, bevor sie zu den Aufzügen ging. Ihr Blick sprang hektisch zwischen den Displays der beiden Aufzüge hin und her, aber sie brauchten zu lange, steckten beide ein Stockwerk höher fest.
Daniels ging ins Treppenhaus und eilte nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, während das Herz ihr fast aus der Brust sprang. Der Geruch der Desinfektionsmittel traf ihr Unterbewusstsein wie ein Ziegelstein und versetzte sie in die Vergangenheit zurück. Zwei Stockwerke weiter oben verlief sie sich in den langen Krankenhausfluren, rannte blindlings in diese und jene Richtung – ohne wirklich zu wissen wohin sie wollte. Dann blieb sie plötzlich stehen. Das Schild direkt über ihr wies zum »KAPLAN«.
Desorientiert betrat sie eine Station.
Ein Priester stand über ein Bett gebeugt und verabreichte die Sterbesakramente. Die Frau im Bett war eine kranke, bleiche Ausgabe von Daniels selbst.
»Mum?«
Der Priester sprach sanft. »Reinige in deinem Blute die Sünder der ganzen Welt, die jetzt im Todeskampfe liegen und heute sterben werden.«
Daniels stieß einen Schrei aus. »NEIN!«
Doch alles, was sie hörte, war Stille.
Der Priester hob weder den Kopf, noch hörte er auf zu beten. Ihre Mutter sah aus, als schliefe sie friedlich. Daniels wollte ihn nicht hier haben, keine von ihnen wollte das. Sie waren noch nicht bereit für den Abschied. Würden es nie sein. Sie packte den Priester an seinen Jackenaufschlägen und warf ihn hinaus. Sein Gott ließ die Unschuldigen sterben …
»Detective Chief Inspector Daniels?« Als sie keine Antwort bekam, wiederholte Schwester Baker ihre Frage. »DCI Daniels?«
Daniels starrte auf ein leeres Bett und nahm die Stimme der Frau kaum wahr. Sie drehte sich um, als der Nachhall der Vergangenheit allmählich verklang. Sie bekam wieder Luft, riss sich zusammen und streckte eine zittrige Hand aus.
»Das war schnell!«, sagte die Krankenschwester, während sie sich die Hand gaben. »Ich hatte ja kaum Zeit aufzulegen. Kommen Sie mit.«
Sie gingen in einen kleinen Raum, der kaum größer war als eine Zelle in der Polizeistation. Daniels warf einen Blick auf einen Stapel Protokolle auf dem Tisch, holte ihr Notizbuch heraus und fächelte sich damit Luft zu.
»Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?«, fragte sie. »Es ist wirklich heiß hier drin.«
»Wissen Sie was«, sagte die Schwester. »Was halten Sie stattdessen von einer hübschen, erfrischenden Tasse Tee?«
Daniels nickte. »Das wäre sehr schön, danke.«
»Ich lasse Mr. Thorburn wissen, dass Sie da sind.«
Schwester Baker verließ den Raum. Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, sprang Daniels auf und durchsuchte die Protokolle, doch dasjenige, das sie haben wollte, war nicht darunter. Während sie noch fluchte, erblickte sie einen weiteren sauber geordneten Stapel in einem Regal bei der Tür. Jo Soulsbys Akte lag ganz oben. Daniels wollte gerade die Hand danach ausstrecken, als die Tür aufging und Schwester Baker mit einem Tablett mit Tee und Vollkornplätzchen hereinkam.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie. »Keine Milch, wie immer. Ich musste erst welche aus der Kantine holen.« Sie reichte Daniels einen Becher dampfenden Tee. »Nun, wie kann ich Ihnen helfen?«
Daniels setzte sich wieder hin. »Wie schwer ist Jo Soulsby verletzt.«
»Schwer zu sagen. Sie hat einen hässlichen Schlag auf den Kopf
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