Hannah, Mari
der langsam nach unten kam. Schweigend fuhren die drei zusammen nach oben und stiegen im selben Stockwerk aus. Daniels ging zum Schwesternzimmer, die beiden jungen Männer bogen nach links zur Chirurgie ab, ohne etwas von der Katastrophe zu ahnen, die ihnen bevorstand. Thorburn fing sie ab, bevor sie Gelegenheit hatten, zu ihrer Mutter zu gelangen.
Jetzt saßen sie mit ihm in einem ruhigen Raum für Angehörige und blickten ihn misstrauisch an. Von seinem Platz aus konnte James Daniels sehen, die sich draußen im Flur herumdrückte. Er zählte zwei und zwei zusammen und kam auf fünf.
»Scheiße! Mum ist doch nicht etwa …?« James brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden.
Thorburn beeilte sich, ihn zu beruhigen. »Nein, nein, nichts in der Art. Ihre Mutter macht stetig Fortschritte, wir haben sie jetzt sogar von der Intensivstation verlegt.«
»Was dann?«, fragte Tom. »Warum dürfen wir sie nicht sehen?«
Thorburn verschwieg ihnen etwas. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, unfähig, ihnen in die Augen zu sehen. Als hätte er etwas Schreckliches zu sagen und wüsste nicht recht, wie er anfangen sollte.
»Eine Polizistin ist hier und möchte Sie beide sprechen«, sagte er betont gleichmütig.
Tom und James sahen einander an.
James tastete nach seiner Tasche. Browns Visitenkarte war noch darin.
»Weswegen?«, fragte James.
»Das sagt sie Ihnen besser selbst.« Der Neurologe ging zur Tür.
Er hielt sie auf und bat Daniels herein. Als sie den Raum betrat, standen beide Brüder auf. Thorburn vertat sich, als er sie einander vorstellen wollte, aber das spielte keine Rolle. Keiner der Jungen war auch nur im Geringsten daran interessiert, was er zu sagen hatte. Sie waren viel zu beschäftigt damit, in Daniels’ Gesicht nach Antworten zu suchen.
James trat vor und ging die Sache direkt an. »Steckt meine Mutter in Schwierigkeiten?«
»Ich hoffe nicht.«
»Was zum Teufel soll das denn heißen?«, fragte er.
»Ich habe schlechte Nachrichten für Sie«, sagte Daniels sanft. »Es tut mir leid, aber Ihr Vater ist tot.«
Tom reagierte sofort. Er fing an, unkontrolliert zu schluchzen. Draußen klapperte ein Teewagen vorbei. Als er sich lautstark im Flur entfernte, fing Thorburn Daniels wütenden Blick auf. Er stand auf, schloss die Jalousien und schlüpfte lautlos hinaus.
Daniels gab ihnen einen Moment Zeit, dann sagte sie: »Ich möchte es jetzt Ihrer Mutter sagen.«
»Nein! Das mache ich«, rief James.
»Es tut mir leid, James. Aber unter den gegebenen Umständen kann ich das nicht zulassen.«
»Warum?«
»Welche Umstände?«, fragte Tom. »Und was hat die Polizei damit zu tun?«
»Ihr Vater ist keines natürlichen Todes gestorben …« Daniels hielt inne, um sicherzugehen, dass die beiden jungen Männer es genau verstanden. »Es war auch kein Unfall. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir wegen Mordes ermitteln.«
Tom schlug sich die Hand vor den Mund. James’ Gesichtsausdruck wurde hart. Er biss sich auf die Lippe, rang um Fassung. Den beiden Brüdern hatte es die Sprache verschlagen. Sie setzten sich.
Es war Tom, der das Schweigen brach. »Da muss ein Irrtum vorliegen!«, sagte er.
Daniels schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Zweifel.«
Seine Reaktion auf die schlechte Nachricht war ihr nicht neu. Sich der Realität zu verweigern, war absolut normal in solchen Situationen. In den kommenden Tagen würde er die Informationen verarbeiten – und schließlich akzeptieren.
Tom sah auf. »Weiß Monica das schon?«
Die Erwähnung der Stiefmutter machte Daniels neugierig. James sah seinen Bruder mit Abscheu an, sein Blick war kalt und ungläubig. »Wen interessiert denn Monica?«, fuhr er ihn an. »Es geht um Mum, um die müssen wir uns Sorgen machen.« Dann zu Daniels: »Sie wird am Boden zerstört sein. Zwischen meinem Vater und ihr gab es noch eine Menge ungeklärter Dinge, als sie sich getrennt haben. Ich glaube, sie ist nie wirklich darüber hinweggekommen.«
»Das geht niemanden was an!«, platzte Tom heraus.
»Warum sind Sie wirklich hier?«, wollte James wissen. »Mum ist doch nicht direkt mit ihm verwandt.«
32
Heftiger Regen prasselte gegen die Fensterscheibe des Einzelzimmers. Die Patientin lag in friedlichem Vergessen auf dem Rücken, angeschlossen an alle möglichen Infusionen und Monitore. Jahre der Erfahrung hatten Daniels gelehrt, dass Verletzungen, besonders von Verkehrsunfällen, oft schlimmer aussahen als sie tatsächlich waren. Dennoch hatte sie nicht so
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