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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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einem Kind zu und zog die Blicke auf sich, als sie in einer Kneipe Zigaretten und eine Zigarettenspitze kaufte. Sie bestellte ein gelbliches Getränk – war es Bier oder Guaraná? –, zündete sich eine Zigarette an und ließ den Blick umherschweifen. Max blieb hinter einem Mandelbaum stehen. Hannah wirkte ruhig, fast ein wenig traurig – und sie war wunderschön! Woran dachte sie wohl? An wen? Sie rauchte und trank ohne Eile. Ihre Bewegungen waren wie ein Tanz, eine Poesie der Gesten, scheinbar unempfindlich für das vergnügte Gaunerpack um sie herum. Umso besser, dass sie nicht lächelte: Frauen wie sie mussten ihre Reize nicht zur Schau stellen – genau wie Schmetterlinge, die, erst wenn die Flügel nicht mehr schlagen, ihre ganze zarte Pracht zeigen. Nach einer Weile nahm sie einen letzten Zug und warf die Kippe ins Glas.
    Sie wohnte im Topas-Haus, einem fünfstöckigen Neubau gleich neben der Kneipe. Es war eines dieser modernen Wunderwerke, die über Nacht aus dem Boden sprossen. Die Stadt wuchs rasend schnell, und es war immer öfter die Rede vom Bau einer Avenida zwischen Cidade Nova und dem Marinearsenal. GanzeHügel wurden niedergewalzt, Copacabana war eine einzige Baustelle. Schon bald würde diese Ecke nicht mehr existieren, und das Gebäude läge in Trümmern. Wo immer die Zukunft ihre gierigen Fühler ausstreckte, ging die Tradition unter.
    Doch das alles interessierte den Schuhmacher nicht. Wozu die Vergangenheit aufwärmen? Nur Eulen blicken zurück! Straßenzüge, Paläste, Gebäude? Sollten sie doch alles niederreißen, solange nur das Topas-Haus stehen blieb, denn dort schrieb Hannah ihre Briefe. Welche der Wohnungen hatte wohl die Ehre, Hannah zu beherbergen? Wo pflegte sie ihre Tugenden?
    * * *
    Zwei Wochen später
    Der Präsident hatte den Bau eines Wasserkraftwerks besichtigt, berichtete der Reporter nach einer Werbung für Tabletten gegen Bauchspeicheldrüsen- und Blasenentzündung. In seiner gefeierten Rede prophezeite er Brasilien eine glorreiche Zukunft. Er rühmte die Wälder und Minen eines Landes, das dem Fortschritt geweiht sei, sich über drei Zeitzonen erstreckte und die längste Atlantikküste Amerikas vorweisen konnte. Seine Stimme klang nicht gerade feierlich, eher näselnd monoton, ungeachtet des Inhalts trug er alles im selben Tonfall vor. Von den einen geliebt, von den anderen gehasst, aber von allen gefürchtet. Nach der Präsidentenrede wies der begeisterte Sprechernoch einmal darauf hin, wie sehr die grün-gelbe Nation, die sich wertvoller Erze und eines ordnungsliebenden Volkes erfreue, auch auf gesunde Blasen und Bauchspeicheldrüsen angewiesen sei. Ein schriller Jingle beendete seine Ausführungen.
    Eine halbe Stunde später lief im Radio Sport. Der Barbier nutzte die Gelegenheit und schimpfte über den Schiedsrichter der letzten Begegnung zwischen Flamengo und Fluminense. Er kommentierte ausführlich die einzelnen Spieler, ohne jedoch seinen niedergeschlagenen Kunden ablenken zu können, dem er bereits die Haare geschnitten, den Bart rasiert und das Gesicht mit Hamamelissalbe eingerieben hatte. Jetzt bat Max die Maniküre, ihm sämtliche zwanzig Nägel und die jeweiligen Häutchen zu stutzen. Mit der Zange in der Hand fragte das neugierige Fräulein, warum er die ganze Zeit zu dem Haus gegenüber hinsehe. Max stellte sich taub.
    Die Begegnung mit Hannah hatte tatsächlich seine kühnsten Erwartungen erfüllt. In ihrem letzten Brief war die Rede von einem Ausflug mit José in die Quinta da Boa Vista gewesen. Meilenweit war er auf seinen Krücken gelaufen und dazu noch durch einen See gerudert. Ein wahrer Athlet! Oder etwa nicht? Max war verwirrt. Der Portier vom Topas-Haus hatte ihm versichert, in keinem der fünfzig Apartments wohne jemand, der hinke oder irgendwie körperlich behindert sei. Wie konnte das sein? Gab es José gar nicht, oder ging er nur nicht an Krücken? Und Josef, wer war Josef? Der Portier kannte auch ihn nicht.
    In ihrem vorletzten Brief hatte Hannah geschrieben, sie habe ihre Freunde zu einem Picknick zu Schawuot eingeladen. Sie hätten gesungen und getanzt, und Hannah habe die Zehn Gebote aufgesagt. Max wunderte sich: Wie konnte sie sich so engagiert einem Glauben widmen, der sie als »gebundene Frau« abstempelte? Die Agunot waren überall schlecht angesehen. Sie trugen das Stigma der Verlassenen, und man unterstellte ihnen, es nicht anders verdient zu haben, wenn nicht sogar am Verschwinden ihrer Männer schuld zu sein. Als Unheil bringend, ja

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