Hannahs Briefe
als ein Verein, der es sich zum Ziel gemacht habe, Spenden zu verteilen und Kranke zu besuchen. Die Mitglieder schienen ihm friedliche, fleißige Menschen zu sein und keine politischen Motive zu verfolgen. Max hatte sogar selbst »etwas Geld« für die Bedürftigen dagelassen, es aber freundlich abgelehnt, dem Verein beizutreten.
Der Hauptmann und der Leutnant sahen sich an.
»Das ist alles?«
»Ja.«
»Nichts Verdächtiges?«
»Nichts.«
»Sicher?«
»Absolut.«
Leutnant Staub stellte noch drei oder vier weitere Fragen, bis er überzeugt und die Befragung beendet war.
»Sie sind ein hochgeschätzter Freund unseres Landes«, beglückwünschte Avelar ihn.
»Danke, Hauptmann.«
»Juden wie Sie sind uns willkommen.«
»Danke, Leutnant.«
Staub bat Max, ihn auf einen »Spaziergang« zu begleiten. Während sie durch Korridore liefen, Treppen hinaufstiegen, Schreibzimmer betraten, nickten und grüßten, erklärte ihm Staub Funktionen und Struktur jeder Abteilung und Unterabteilung. Dies war das Brasilien der strammen Körper, der Armbinden und glänzenden Stiefel. Am Ende lud der Leutnant Max zu einem Kaffee in sein Büro ein.
»Schon Goethes Mephisto wusste: Der Pöbel erkennt den Teufel nicht mal, wenn dieser ihm die Schnur um den Hals legt. Wie erklären die Revolutionäre Stalins Massaker und die Verbannungen nach Sibirien?« Rhetorische Pause. »Gar nicht, weil die Propaganda stärker ist als tausend Truppen. Die Kommunisten haben sogar die Religion abgeschafft, um nicht mit anderen Utopien konkurrieren zu müssen. Trauen Sie niemandem, der Gleichheit predigt, meinLieber. Was die Menschen ausmacht, ist ihre Unterschiedlichkeit.«
Max wunderte sich über so viel Aufmerksamkeit: Warum vergeudete der Leutnant seine Zeit mit einem einfachen Übersetzer? Gab es etwa eine entfernte Verbundenheit zwischen ihnen? Vielleicht wollte Staub ihm etwas sagen, das er aus Gründen der Vernunft nicht aussprechen konnte. Aber was?
Ein Polizist unterbrach sie.
»Leutnant Staub!« Er nahm Haltung an. »Major Müller möchte Sie sprechen!«
»Ich komme sofort.«
Staub zog einen Taschenspiegel hervor, kämmte sich das Haar und rückte die Uniform zurecht. Beim Abschied glaubte Max, eine wohlwollende Sorge in seinem Blick zu erkennen.
* * *
Die Winter in Rio waren heißer als die Sommer in Polen. An warmen Tagen öffneten sich in Kattowitz die Türen, die Menschen lächelten bei jeder Gelegenheit und spazierten am Fluss entlang. Plätze und Parks waren voller Blumen, Schmetterlinge und anderem Getier. Familien veranstalteten Picknicks, Liebespaare liefen Hand in Hand.
In Europa waren die Monate wie die Menschen, jeder hatte sein eigenes Temperament, seinen Charakter: der eine mürrisch, der andere freundlich. Die Mürrischen verbargen ihre guten Seiten, die Freundlichenihre Makel. Jeder hatte seinen Geruch, seine Struktur, seine Farbe – und seine Dauer. Das Grün erstrahlte zu kurzer Pracht, denn schon im September nahm der Herbst den Feldern und Gemütern die Farbe. Man hatte das Gefühl, dass die Kälte die ganze Zeit auf der Lauer lag und die Wärme nur ein vorübergehendes Zugeständnis war, ein kurzer Lebenshauch. Da machte man sich in Kattowitz nichts vor: Von Juni bis August schlummerte das graue Monstrum lediglich (man hörte es regelrecht schnarchen), um bald darauf mit neuer Kraft zu erwachen und sechs Monate lang Frost über sie zu bringen. Dann gab es statt Früchten Konserven und fettes Fleisch, wenn es nach etwas roch, dann nach Feuerholz, die Menschen wickelten sich in dicke Mäntel ein, und der Himmel hing schwer über ihren Wegen. Im November löschte der Schnee Farben und Lebensgeister. Die Bäume spendeten keinen Schatten mehr, bis zum nächsten Frühling waren sie nichts anderes als krumme Skelette.
In Rio de Janeiro war das anders. Die Jahreszeiten unterschieden sich nicht groß voneinander, und die Zyklen der Natur zeigten sich vor allem im saisonalen Angebot der Märkte. Wenn hin und wieder ein violetter Lapacho oder ein blassgelber Mandelbaum die Landschaft schmückten, wurde gleich die »Mode der Saison« verkauft, nur damit die Geschäfte ihre Bestände erneuern konnten. An den Strand oder im Wald spazieren zu gehen war zu jeder Jahreszeit möglich. Im Sommer straften Unwetter die Stadt mit Überschwemmungenund Erdrutschen. Anschließend bestaunte man die wunderschönen Regenbogen, und alles war wie immer. Die Winter waren so mild, dass Feste oft im Freien stattfanden.
An jenem Nachmittag
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