Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
Vom Netzwerk:
sogar als Hexen wurden sie bezeichnet. Und trotzdem wandte sich Hannah nicht vom Judentum ab. Was für eine Frau! Wie viele Menschen hatten nicht aus viel geringeren Gründen mit ihrer Tradition gebrochen und sich einem einfacheren Glauben zugewandt. Wie viele falsche Messiasse hatten nicht mit großem Trara das Paradies verkündet? Als verlangte der Glaube nicht nach Prüfungen, als wäre das Leben ein stilles, klares Wasser und nicht eine Strömung, die alles mit sich reißt bis auf die Steine, die tief verankert im Flussbett liegen!
    Es war 10 Uhr 30. Max erschrak. Kein Geringerer als Hauptmann Avelar erschien mit geschwellter Brust und Barett beim Barbier.
    »Max Kutner, was machen Sie denn hier?«
    »Ich … äh, lass meine Nägel machen.«
    »In Rio Comprido?«
    »Ja.«
    Schweigen. Avelar strich sich übers Haar.
    »Ich wohne zwei Straßen weiter.« Als der Schuhmacher nichts erwiderte: »Hat mich gefreut, Sie zu treffen. Wir müssen reden, aber nicht jetzt. Kommen Sie um vier zu mir ins Büro.«
    *
    An der Wand hing eine Karte von Brasilien. Ablagen, Stifte und Medaillen zierten Avelars Schreibtisch. Er blätterte in einem schwarzen Buch.
    »›Wir werden bald gewaltige Monopole errichten und Reichtümer ansammeln, mit denen wir auch das Vermögen der Nichtjuden von uns abhängig machen.‹« Auf Avelars Stirn pulsierte eine Ader. Er hielt das Buch hoch. »Wissen Sie, was das ist, Kutner? Die Protokolle der Weisen von Zion. Steht alles hier drin, die geheime Bibel der Juden! Aber das ist es nicht, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte.«
    Er räusperte sich und reichte dem Schuhmacher ein beschriebenes Stück Papier. »Verein Bnei Jisrael, Rua Feliciano 23, Madureira.«
    »Ein ganz normaler Verein?«, fragte der Hauptmann. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eine Brutstätte der Roten? Wer weiß … Finden Sie das heraus. Irgendwelche Fragen? Bestens. Morgen findet eine …« Er hielt kurz inne. »… Feier statt. Ich will wissen, wer und wie viele es sind und was sie vorhaben.«
    *
    Kleine Häuser, mehrstöckige Gebäude, Kultstätten bedeckten die Hügel der Vorstadt. In dieser Gegend zeigte sich die Hauptstadt von ihrer hässlichen Seite. Oj wej! Max starb fast vor Angst, während er seit fast einer Stunde im Zug vor sich hin ruckelte und seinen »Dienst am Vaterland« verfluchte, der ihn jetzt aus der gemütlichen Rua da Relação nach Madureira führte.
    Er landete auf einem Bahnsteig ohne Schatten oder Bänke, direkt neben einem Favela-Hügel, den man auf keiner Postkarte finden würde. Es war das Gegenteil vom Corcovado – der Antichrist! Er lief durch die von Einfamilienhäusern mit Gärten und Bäumen gesäumten Straßen. Drachen tänzelten am Himmel, er hörte Kinderstimmen. Es war einer dieser Orte, an denen Leben und Land brachlagen, an denen die Uhren stehen blieben und die Hühner an Altersschwäche starben.
    Max betete zu Gott, dass ihn in der Rua Feliciano liebenswürdige Menschen erwarteten und keine der von Hauptmann Avelar ausgemalten Verschwörungen. Er warf einen Blick auf den Stadtplan der Polizei, umrundete einen kleinen Platz, auf dem ein Junge allein spielte, stieg eine Anhöhe hinauf und bog in eine unwirtliche Straße, an deren Ende ein hellblaues heruntergekommenes Haus stand, die Türen und Fenster verschlossen, im Hof Enten und eine schlafende Katze. Absolute Stille. Max kratzte sich am Kopf. Und jetzt? Er überprüfte die Adresse, sah sich um, wischte sich den Schweiß ab. Niemand zu sehen. Am liebsten wäre er gleich wieder gegangen und hätte die Sachevergessen. Komm schon, Max! Ein plötzlicher Windstoß schüttelte die Bäume durch, die Blätter fielen zu Boden und weckten die Katze auf. Max schob eine Pforte auf, begrüßte die Enten und wich einer Ameisenstraße aus. Pflanzen verdorrten in zwei brüchigen Töpfen links und rechts von der Tür, an die er gerade klopfen wollte, als er ein Geräusch hörte. Die Tür ging nach innen auf, und Max sah in ein blasses Gesicht mit trüben Augen und einem sarkastischen Grinsen. Bevor er das Bewusstsein verlor, hörte er sagen:
    »Schalom, Max Goldman.«
    Während Hauptmann Avelar es sich am nächsten Tag auf seinem Jacarandaholz-Thron bequem machte, streckte ihm ein junger Mann in Uniform die Hand entgegen.
    »Leutnant Staub, Chef der jüdischen Abteilung.«
    »Ein junger, vielversprechender Kollege«, fügte der Hauptmann hinzu. »Setzen Sie sich, Kutner, und erzählen Sie.«
    Max erklärte, die Bnei Jisrael seien nichts anderes

Weitere Kostenlose Bücher