Hannahs Briefe
zum Beispiel übersetzte Max den Bericht von einer Hochzeitsfeier in Jacarepaguá – Süßes, Salziges, Violinen, alles wurde detailliert geschildert. Der Rabbiner hatte die Zeremonie mit einem Auge auf die Affen abgehalten, die in einer Weide saßen und die Gäste mit Fäkalien zu bewerfen drohten. In der Nähe des Orchesters planschten die Kinder im Bach, während die Erwachsenen tanzten und Masel tov riefen. Die Hochzeitstorte wurde in höchsten Tönen gelobt, so sehr, dass eine blinde Tante darum bat, sie anfassen zu dürfen. Max musste fast lachen. Er wäre geradezu gerührt gewesen, hätte das Fest denn tatsächlich stattgefunden; hätte es sich dabei nicht um eine Farce gehandelt, die vor acht Tagen in der Rua Feliciano 23 in Madureira ausgeheckt worden war.
*
Nach drei Gläsern Zuckerwasser war er wieder bei Sinnen. Mit wackligen Knien und Schweiß auf der Stirn wurde Max auf einen Stuhl gesetzt. Um ihn herum standen mehrere Frauen und Männer unterschiedlichen Alters. Die Bnei Jisrael waren tatsächlich ein wohltätiger Verein. Sie sammelten Geld, Kleidung und Essen. Die Polizei hätte wohl nichts zu beanstanden gehabt, hätten sich die Mitglieder nicht vor allemum Juden gekümmert, die Opfer der Repression geworden waren. Menschen wurden verhaftet, verschleppt oder verschwanden einfach, zurück blieben zerschlagene Familien, geplatzte Geschäfte und durchkreuzte Pläne. Wie viele Eltern, Kinder, Ehepartner harrten in ihrem Elend, ihrer Verzweiflung und wussten nicht, ob die Ihren in der Zelle oder in der Grube lagen? Wie sollte man ihnen helfen?
Dona Ethel zitierte aus dem Talmud: » Kol Jisrael arevim ze laze . Jeder Jude ist für den anderen verantwortlich.«
Ein Mann mit einer großen Nase ergriff das Wort.
»Wir ermöglichen vierzig Kindern den Besuch einer Schule und versorgen alte Menschen mit Medikamenten. Wir versuchen, Nachricht von Inhaftierten und Verschleppten zu erhalten. An Feiertagen laden wir unsere Brüder zu uns nach Hause ein. Mit Politik haben wir nichts am Hut. Ob links oder rechts interessiert uns nicht. Wir sind seit viertausend Jahren Juden. Wer ist schon so lange links?«
Worauf Dona Ethel sagte: »Die Gojim werden immer Gründe erfinden, uns zu verfolgen.«
Ein alter Mann lächelte ihn an. »Ich habe Ihre Eltern gekannt, Max Goldman. Reisele war eine echte Prinzessin.« Dann guckte er ernst. »Und Sie, in Ihrem Alter noch Junggeselle?«
Der Mann mit der Nase ergriff wieder das Wort.
»Wir haben gute Spione, unter anderem bei der Polizei. Einer von ihnen hat Sie hierhergebracht.«
Einer der Orthodoxen fügte hinzu: »Spione warenin unserer Geschichte immer nützlich und meist sehr mutig. Haben Sie schon mal von den Meraglim gehört, die Moses nach Kanaan entsandte?«
Max verstand die Welt nicht mehr.
»Was wollen Sie von mir?«
Der Nasenmann verschränkte die Hände.
»Einige unserer Brüder werden von der Polizei verfolgt. Sie sind gut versteckt, wir werden sie mit falschen Pässen nach Argentinien schleusen. Die Anweisungen für unsere Leute dort stehen in diesem verschlüsselten Brief, den Sie in den nächsten Tagen übersetzen werden. Darin ist die Rede von einer Hochzeit in Jacarepaguá, alles gelogen. Sie dürfen nur die Namen der Gäste nicht mitübersetzen.«
»Haben Sie verstanden, Max Goldman?«, fragte Dona Ethel.
Max reagierte nicht.
»Dann ist ja alles klar. Hier ist meine Adresse. Von nun an sind Sie einer von uns.«
*
Nachdem er die Hochzeitsfeier übersetzt hatte, trank Max einen Schluck Wasser und machte sich an den nächsten Brief.
Guita berichtete von einem Essen, das Jayme und sie für die Creme von Buenos Aires gegeben hatten. Ein denkwürdiger Abend. Und da »das Interessanteste immer die unvorhergesehenen Zwischenfälle sind«, so Guita, wurden diese natürlich auch erwähnt:Die Horsd’œuvres fielen aus, weil ein Minister sie bereits in der Küche verspeiste; mehrere Damen trugen barocke Perlen in beunruhigenden Ausmaßen; zwei Botschafter grüßten sich nicht.
Guita schloss mit einer nüchternen Erkenntnis: »Wenn mich schon niemand bewundert, sollen sie mich wenigstens beneiden! Ein kleiner Trost für eine Frau, deren einzige Tugend es ist, deine Schwester zu sein.«
Eine Woche später:
Rio de Janeiro, 14. August 1937
Liebe Guita,
versuche nicht zu kontrollieren, was andere von Dir denken. Das ist, als wollte man mit seinem Atem die Wolken formen. Die einen lieben Dich im Stillen, die anderen hassen Dich. Was sie für Gründe
Weitere Kostenlose Bücher