Hannahs Briefe
haben? Besser, man weiß es nicht. Anderer Menschen Gefühle sind ein Sumpf, den wir in unserer Eitelkeit mit Blumen schmücken wollen. Nur dass die Sümpfe ihre eigenen Blumen haben.
Küsse, Hannah
* * *
Etwas war anders, als Max aufwachte. Irgendetwas fehlte, sein Kopf fühlte sich ganz leicht an und sein Körper erstaunlich agil. Im Badezimmerspiegel blickte ihm ein resoluter Mann entgegen. Wo waren die gebeugtenSchultern, die glanzlosen Lippen, die Traurigkeit? War er verrückt geworden – oder gar gestorben? Er duschte, tastete sein Gesicht ab, die Brust, sein Geschlecht, die Beine. Er horchte in sich hinein und stellte fest, dass er weder Schmerz noch Sorge empfand. Da kam ihm der Gedanke, dass nicht er, sondern etwas in ihm gestorben war. Als er wieder in den Spiegel sah, hatte er den Verdacht, einen Mann ohne Schuld zu erkennen. Alle Last schien auf einmal von ihm gefallen. Auf dem Nachttisch stand Shlomo und zitierte Rabbi Hillel: »Wenn nicht ich für mich bin, wer dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann?«
Max war die ewige Selbstzensur leid. Diente denn die Moral nur dazu, sich zu zügeln und zu geißeln? Warum gingen Schmerz und Anstand seit Tausenden von Jahren Hand in Hand? Guita hatte recht, sich mit weltlichem Flitter zu umgeben, statt sich vorzeitig in ein Leichentuch zu wickeln, wie so mancher es aus eingebildeter Heldenhaftigkeit tat. Max hatte keine Lust mehr, den Büßer zu spielen. Er wollte glücklich sein, sich ganz fühlen, wie ein Mann – und trotzdem moralisch handeln! Denn die eigentliche Herausforderung bestand nicht darin, sich blind an die heiligen Gebote zu halten, sondern sie in ihrem Kern zu erkennen.
Ja, Max übersetzte Hannahs Briefe, er verriet Geheimnisse, und er lebte unter falschem Namen. Ja, Hannah war verheiratet. Na und? Was spielte das für eine Rolle in dieser wahnsinnigen Welt, in der einKrieg den anderen jagte? Max sah sich in eine Arena geworfen und mit Löwen kämpfen, die weder das Schma beteten noch Amulette küssten. Hier hieß es: Töte oder stirb. Er wollte sie erobern, statt Schach mit dem Wind zu spielen und sich nur im Kreis zu drehen, während andere Spieler vorrückten und die Partie entschieden.
Er wählte Hemd und Hose aus. Es war sieben Uhr morgens an seinem ersten Tag ohne Schuld.
Die Praça Onze erwachte. Vor den Türen sah man die Flaschen stehen, die die Milchmänner in aller Frühe verteilt hatten. Der Schlaf wich aus den Behausungen, an den Ecken roch es nach Kaffee, Kinder in Uniformen lärmten auf dem Schulweg, und in der Central do Brasil drängten bereits die Horden aus den Zügen.
Um acht Uhr stand Max in Rio Comprido hinter seinem Mandelbaum und probte den Ernstfall: »Sie hier, welch ein wunderbarer Zufall!« Er habe etwas in der Gegend ausgeliefert. Übrigens, er repariere auch Handtaschen, Brieftaschen, Koffer und Gürtel. Ob er seine Arbeit mochte? Ach, doch, immerhin könne er davon leben. Wie er es mit dem Judentum halte? Er sei nicht religiös, aber er halte die Feiertage ein, bete auf Hebräisch und schimpfe auf Jiddisch. Apropos, bald feierten sie das Jahr … das Jahr … (er rechnete hektisch nach) … genau: 5698! Gut Nay Yor!
Um halb neun ging die Tür zum Topas-Haus auf,und Hannah erschien in einem artigen schwarz-weißen Kleid, die Haare zu einem Dutt gebunden. Sie grüßte den Portier und trat in ihren kürzlich reparierten Schuhen auf die Straße. Sie war schlicht, aber äußerst elegant gekleidet und hatte es offenbar eilig. Wo arbeitete sie? Mode, Schmuck, Kosmetik? Er folgte ihr, sie kaufte an einem Stand einen Apfel, aß ihn im Gehen und sah sich an einem Kiosk die Zeitungen an. Der Gürtel um ihre schmale Taille betonte die Hüften und zog das schwarze Plissee bis über die Knie.
Die schwarze Limousine wartete auf der Praça Estrela. Ein Fahrer mit Mütze öffnete die hintere Tür, Hannah schlüpfte rasch hinein. Der Wagen fuhr sofort los. Was machte Hannah in einer Limousine?, wunderte sich der Schuhmacher.
In Gedanken versunken kehrte er zurück nach Hause. Eine Proletarierin in einer Limousine? Das war nicht die Hannah, die er aus den Briefen kannte. Sie sah aus wie eine pompöse Adlige, im Grunde so, wie er sich Guita vorstellte. Warum die Eile und der Fahrer? Wo waren José und dieser mysteriöse Josef?
Max war den ganzen Tag über verwirrt und stellte die absurdesten Vermutungen an.
Am nächsten Tag begrüßte er Onofre, schlug sein Notizbuch auf und wollte gerade mit der Arbeit beginnen, da lief ihm
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