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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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ein Schauer über den Rücken. Hannah schrieb jetzt auf gelbem Papier.

    Rio de Janeiro, 27. August 1937
    Guita,
    Rosch ha-Schana steht vor der Tür, Zeit der Erneuerung.
    Weißt Du, an wen ich heute gedacht habe? An Tante Sabina! Diese Verrückte. Saß vor ihrem Schminktisch mit all den Töpfchen, Fläschchen und Bürsten und wartete auf »den Richtigen«. Sie hatte ein Parfüm, einen versiegelten Flakon, den sie für den großen Tag aufbewahrte.
    Nur dass die Haare, die Tante Sabina bürstete, von Jahr zu Jahr weißer wurden und das Parfüm allmählich verdarb. Vom »großen Tag« keine Spur. Als ich eines Tages mit ihren Sachen spielte … ging das Parfüm kaputt. Ja, wirklich! Das Parfüm für den großen Tag, ich habe es kaputtgemacht. Oj wej! Mama hat mich geschlagen, Papa war stocksauer, und Tante Sabina ging es so schlecht, dass wir den Arzt und den Rabbi rufen mussten, sogar den Bestatter haben sie benachrichtigt. Mein Gott, was für ein Chaos!
    Aber Tante Sabina ist nicht gestorben. Im Gegenteil. Sie nahm den Besen und kehrte alles auf.
    Wer hätte das gedacht, Guita! Als Tante Sabina am nächsten Tag aufwachte, war sie um zwanzig Jahre jünger. Sie war frei! Sie kam zu uns und sagte, es sei besser, zu leben, ohne zu träumen, als zu träumen, ohne zu leben.
    Tante Sabina hatte recht, und wie. Heute versteheich, was sie gemeint hat. Ich verstehe sie, aber ich lerne nichts daraus.
    Mein Parfüm ist schon vor Jahren zerbrochen, und ich tue nichts anderes, als die Scherben aufzubewahren. Jede Nacht weine ich und denke an diesen dummen Unfall, als Max mit dem Wagen im Fluss ertrank. Es stimmt, ich bin tatsächlich eine Aguna, ich bin buchstäblich gebunden. Denn es wird nie einen Mann geben, der mich über ihn hinwegbringen kann.
    Das Leben ist grausam, geliebte Schwester. So grausam, dass ich vor wenigen Tagen einen anderen Max Kutner kennengelernt habe. Stell Dir vor! Einen Schuhmacher aus Galizien. Ach, der Arme, der Mann hat so gar keinen Charme … Wie kann er es wagen, den Namen meines Geliebten zu tragen?
    Josef lässt Dich grüßen.
    Viele, viele Küsse.
    Hannah

Kapitel 3
    Ein goldenes Kruzifix, Tonfiguren von Heiligen, das Wappen einer Fußballmannschaft. Max rieb sich die Augen. Was machte er auf diesem Sofa? Ihm tat alles weh.
    »Geht’s wieder?« Eine rundliche Frau brachte ihm Kaffee.
    Der erste Schluck verbrannte ihm die Zunge.
    »Ich bin Dina, Onofres Mutter. Ich hab Ihnen die Strümpfe ausgezogen, mit Strümpfen schlafen bringt Unglück. Sie sind bei der Arbeit ohnmächtig geworden, da hat mein Sohn Sie hergebracht.« Kurze Pause. »Wie heißt sie denn?«
    »Hannah.«
    »Essen Sie etwas Suppe.«
    Am Tisch warf Max einen Blick auf Dinas Amulette und empfand dabei eine gewisse – ihm unbekannte – Ehrfurcht. Während er früher Prophezeiungen gemieden und sich mit dem Zufall begnügt hatte, fragte er sich jetzt, warum das Schicksal es wollte, dass er sich in die Witwe des wahren Max Kutner verliebte. Es musste ein verhängnisvoller Zusammenhang bestehen. Das war die göttliche Gerechtigkeit, die jetzt das i-Tüpfelchen setzte und Max für seineFarce bestrafte. Kein Geringerer als der Verstorbene selbst war es, der sich durch seine Witwe an ihm rächte!
    »Zünden Sie eine zweifarbige Kerze an, über einem Blatt Papier, auf das Sie ihren Namen schreiben«, sagte Dina.
    »Aber … ich bin Jude.«
    Das schien sie nicht zu interessieren.
    »Auf der Welt gibt es nur Verliebte und Nichtverliebte, alles andere ist Unsinn.«
    Max zögerte, er hatte so etwas noch nie getan und sich sogar eher über andere lustig gemacht, die ähnliche Dienste in Anspruch nahmen.
    »Bringen Sie Hannah dazu, mich zu mögen.«
    Dina wischte sich den Mund ab.
    »Bringen Sie mir ein Glas, eine Zigarette, irgendetwas, das sie mit dem Mund berührt hat. Diese Frau ist mit Oxum im Bunde, da bin ich mir ziemlich sicher. In drei Tagen habe ich das Problem gelöst. Kommen Sie!«
    Der Garten war voller Pflanzen, Sperrmüll und Katzen. Dina hob ihre kräftigen Arme.
    »O heilige Rita des Unmöglichen! Was wird das Schicksal dieses Juden sein? Stimmen des Volkes, Botinnen Fortunas, sagt mir, was erwartet ihn?«
    Sie fasste den Schuhmacher an den Händen.
    »Jetzt gehen Sie! Achten Sie darauf, was die Straße sagt, die Wahrheit liegt in der Stimme des Volkes. Der Zufall ist der beste Prophet.«
    Max stieg eine Treppe hinab bis zur Praça da CruzVermelha. Als er auf die Avenida Mem de Sá gelangte, pochte ihm das Blut in den

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