Hannahs Briefe
Schläfen, und er hatte weiche Knie. Eine Sambagruppe spielte ein Lied von Noel Rosa. Saiten- und Rhythmusinstrumente begleiteten den Gesang:
»Zu lügen zeugt von Vornehmheit / Zu viel Offenheit kann leicht verletzen / Lügen ist kein Verbrechen / Es zeugt von edelster Gesinnung / Wenn man lügt, um jemanden glücklich zu machen.«
* * *
Buenos Aires, 31. August 1937
Liebe Hannah,
Du bist ein Engel! Auf dass Du 5698 weiterhin so vielen Menschen Gutes tust, unter anderem mir!
Gut Nay Yor!
Guita und Jayme
*
Rio de Janeiro, 9. September 1937
Guita,
Danke Dir für deine Worte! Du bist auch ein Engel.
Übrigens, Engel gibt es viele und überall, sie warten nur darauf, uns die Hand zu reichen. Im Grunde sind wir alle Engel. Es kommt nur auf den richtigen Augenblick an.
Und eins ist sicher: Engel, sollten sie denn existieren, haben ihre eigenen Engel. Und die sind es auch, die ihnen die Möglichkeit geben, anderen zu helfen. Gesegnet seien die Menschen, denen ich die Hand reiche, denn in Wirklichkeit reichen sie mir ihre. Wie heißt es im Talmud: Wer gibt, empfängt am meisten.
Küsse,
Hannah
* * *
Max war elf, als die Großeltern einen Reisenden bei sich aufnahmen. Der Mann war im hintersten Winkel von Afrika gewesen und in einem Boot den Ganges hinuntergefahren. Er hatte in den Dünen nördlich von Jaffa Tel Aviv entstehen sehen, bevor er in der Nähe von Kairo eine Pyramide bestieg. Mit einem Wort: ein Abenteurer. Großmutter Rebekka stellte gerade das Abendessen auf den Tisch, als der Gast von seinem Großvater wissen wollte, ob der Mensch nach oben oder nach unten wachse.
Darauf Shlomo: »Nach oben, natürlich!«
»Irrtum!«, amüsierte sich der andere. »Wir wachsen nach allen Seiten, unter anderem auch nach unten. Die Welt breitet sich um einen Kern herum aus. Es ist eine Illusion, zu glauben, wir entwickelten uns in eine Richtung.« Und an den staunenden Jungen gewandt: »Verstehst du?«
»Ja«, hätte Max zwanzig Jahre später geantwortet. Da hatte er bereits herausgefunden, dass jedes Guteetwas Schlechtes mit sich brachte und jeder Zentimeter nach oben an anderer Stelle einen nach unten bedeutete. Wissen schließt Unwissenheit nicht aus, und Überfluss nicht Mangel. Brasilien war das beste Beispiel. Das Land war riesig, fruchtbar und warm. Alles keimte, alles breitete sich immer weiter aus, unter anderem die Armut, vielleicht weil es ein geheimes Einverständnis zwischen Mangel und Exzess gab. Überfluss förderte Not – oder war es andersrum? In Rio starb man nicht vor Hunger oder Kälte, hier verteilten wohlhabende Damen ihr Kleingeld an Bedürftige, die kräftiger waren als die Hafenarbeiter in Polen. Früchte fielen von den Bäumen und verfaulten neben Bettlerinnen, die ihre Kinder stillten. Favelas und Wohnsilos standen neben Villen und Palästen. Nur Nichteingeweihte wunderten sich über die eigenartige Harmonie in der brasilianischen Hauptstadt, diesem tropischen Flickenteppich.
Die Juden sahen sich in eine Welt hineingepfropft, in der Mulatten Jiddisch radebrechten und Politiker Lose der Tierlotterie kauften. Ein bunter Abend in der Kneipe vermischte sich mit den Gebeten in der Synagoge im Stockwerk darüber. Nicht mal die Integralisten machten einem mit ihrem pathetischen Gebrüll Angst. Die Brasilianer kannten keinen Hass. Vielleicht wurde Max hier und dort beleidigt oder bedroht, aber nicht, weil er Jude war, sondern weil sich alle gegenseitig beleidigten und bedrohten, als ginge es um Krieg und Frieden. Ständig gab es etwas zu lachen. Und es wurde viel getrunken: Bier, Schnaps, billigerWein. Sinnlichkeit beherrschte die Blicke und füllte die Bordelle und Tanzklubs.
Das Land war ein liebenswertes Tollhaus, ein gastfreundlicher Tummelplatz, solange man sich an die Regeln – oder deren Nichtvorhandensein – hielt. Und der typische Jude, der von Schuld und Angst durchdrungen war und sich wie der ewig unwillkommene Gast vorkam, näherte sich dem unauffällig an, wie eine verirrte Gruppe, die sich dem Rummel anschließt und früher oder später die große Verbrüderung feiert.
Und was für eine Verbrüderung! In Manaus zog das Grab eines Rabbis, dem man Wunder nachsagte, Pilger aus dem gesamten Amazonasgebiet an. Im Sertão, im Nordosten des Landes, gab es massenweise Spuren eines Judentums, das von der Inquisition verbannt worden war. Und was war mit den Trommeln der Macumbeiros, die sich in der Oberschicht heimlicher Beliebtheit erfreuten? Also, wenn das Land ein einziges
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